Dienstag, 14. Januar 2025

Welche Wahrheit darfs denn sein?

Wahrheit ist eines der Themen, mit denen sich die Menschheit am meisten befasst hat und noch immer befasst. Von den zahllosen Religionsstiftern, Philosophen, Moralpredigern und Sinnsuchern der Geschichte bis hin zu Journalisten, Verschwörungstheoretikern und Politikern unserer Tage: Wahrheit ist ein großes Thema. Ja, in dieser Liste der Suchenden – die alles nur nicht abschließend ist – sind auch Personengruppen aufgeführt, die man im Allgemeinen nicht zwingend mit Wahrheit in Verbindung bringt. Dennoch gehören sie hierher. Denn es soll um die Wahrheit selbst, um die Natur der Sache also, gehen. Nicht um deren Inhalte. Das ist tatsächlich kein Widerspruch in sich, auch wenn es im ersten Moment vielleicht so wirken mag.

Denn Wahrheit ist ja nicht gleich Wahrheit. Auch wenn immer wieder behauptet wird, es gäbe nur die eine und absolute Wahrheit, so ist das eben nicht immer so. Es sei hier einfach mal behauptet, dass es drei verschiedene Wahrheiten gibt. Diesen wollen wir ein wenig auf die Spur kommen.

 

Absolute Wahrheiten

Am uninteressantesten sind die absoluten Wahrheiten, die an denen es nichts zu rütteln gibt. Eine solche Wahrheit ist zum Beispiel die folgende Aussage: „Der Tiger ist ein Fleischfresser.“ Es gibt an dieser Aussage nichts zu bezweifeln, das weiß jeder und, was ja noch wichtiger ist, es ist auch absolut beweisbar. Beobachtungen von Tigern in der freien Natur wie in Gefangenschaft, physiologische Analysen von Tigern und alle möglichen anderen wissenschaftliche Verfahren werden genau zu diesem Ergebnis führen.

Absolute Wahrheiten haben einen großen Vorteil: Sie werden nur sehr selten angezweifelt. Darum spielen sie im großen Diskurs rund um die Wahrheitssuche meist keine große Rolle. Hier seien sie darum auch schnell abgehandelt.

 

Relative Wahrheiten

Spannender als absolute Wahrheiten sind die relativen Wahrheiten. Denn bei ihnen kommt es darauf an. Eine solche relative Wahrheit wäre zum Beispiel: „Rosinen sind eine schmackhafte Speise.“ Nun könnte man sich wunderbar eine angeregte Diskussion zwischen Menschen vorstellen, die gerne Rosinen essen und solchen, die den verschrumpelten Dingern absolut nichts abgewinnen können. Es gibt aber auch noch eine dritte Gruppe in dieser Diskussion: Diejenigen, die Rosinen unter bestimmten Umständen mögen, unter anderem aber absolut abscheulich finden.

So ließen sich etwa drei, für die jeweilige Person absolut richtige und wahre, Aussagen formulieren:

„Rosinen schmecken gut.“

„Rosinen sind ekelhaft.“

„Rosinen im Kuchen schmecken gut, aber im Müsli mag ich sie nicht.“

Lassen wir diese drei Aussagen einmal so stehen, welcher man persönlich zustimmt, ist erstmal egal. Wer von den drei sagt die Wahrheit? Nun, eigentlich alle und gleichzeitig auch niemand. Das mag wie ein Widerspruch klingen, ist jedoch die logische Schlussfolgerung aus der Betrachtung. Denn für jeden der drei Diskussionsteilnehmer ist die jeweilige Aussage absolut wahr, die beiden anderen sind jedoch gleichzeitig absolut unwahr. Was zutrifft, kommt auf die jeweilige Person an.

Relative Wahrheiten sind eine weit verbreitete Form von Wahrheit. Sie begegnen uns täglich in mannigfaltiger Gestalt. Etwa bei der Frage, welche Partei denn nun das beste Programm für die nächste Wahl hat oder welche Sängerin die schönste Stimme hat oder welche Sportart die beste sei. Es sind Fragen, für die es keine allgemeingültigen Antworten geben kann.

Das heißt aber natürlich nicht, dass man über solche Wahrheiten nicht diskutieren kann. Man kann es und es wird ja auch viel getan, allerdings oft unter der falschen Prämisse, jemand zu seinem eigenen Standpunkt bekehren zu wollen. Da es keine allgemeine Antwort geben kann, bleibt hier nichts anderes übrig, als den bestmöglichen Kompromiss zu finden.

 

Flexible Wahrheiten

Die vermutlich spannendste Kategorie von Wahrheiten sind die flexiblen (oder veränderlichen) Wahrheiten. Denn manche Dinge können ihren Wahrheitsgehalt tatsächlich ändern.

Wenn Sie die Gelegenheit haben, dann schauen Sie mal in ein Schulbuch für den Physikunterricht aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Dort wird man den folgenden Satz finden: „Das Atom ist das kleinste Teil, aus dem die Materie aufgebaut ist und unteilbar.“

Jeder Mensch, der heute lebt und auch nur einen winzigen Hauch von physikalischer Bildung genossen hat, wird natürlich sofort sagen: „Was für ein Unsinn.“ Ja, heute ist es das, aber damals war es wahr, einfach weil man es nicht besser wusste. Lebensbereiche, die der Veränderung, dem Fortschreiten, der Weiterentwicklung in irgendeiner Form unterliegen, sind das Feld der flexiblen Wahrheiten. Wissenschaft und Technik sind voll davon und leben letztlich davon, sich selbst des Irrtums zu überführen. Auch wenn es leider oft missverstanden wird, gerade die Wissenschaft braucht den Irrtum, den Irrweg und den Fehler, um in kleinen Schritten zu besserem Verständnis zu gelangen und dann, irgendwann vielleicht einmal, zu einem bestimmten Thema eine absolute Wahrheit zu finden.

Dinge wie die allgemeine Gesellschaftsform und die Sprache unterliegen dem Wandel und sind damit oft von flexiblen Wahrheiten durchsetzt. Das Schulbuch von anno dunnemals, das dem Atom die Unteilbarkeit unterstellt, mag heute falsch sein, doch es ist auch zugleich richtig als Dokument einer Zeit, in der man es eben nicht besser wusste.

Historiker nennen das die „kritische Quellenbeurteilung“. Damit ist gemeint, dass man mit den heute unwahren Wahrheiten der Vergangenheit vorsichtig sein muss. Doch bei richtiger Anwendung kann man durch sie auch verstehen, wie die Menschen der jeweiligen Zeit dachten und die Welt sahen.

 

Es ist eben nicht so einfach mit der Wahrheit. Darum bleibt abschließend wohl nur festzuhalten, dass man sich an das halten sollte, was man selbst für wahr erkannt hat. Gleichzeitig aber auch immer offen – oder zumindest verständnisvoll - sein soll für die Wahrheiten anderer. Außerdem auf der Hut, dass man nicht einer überholten, veränderlichen Wahrheit hinterherläuft. Diese könnte ein Irrweg sein.

 

Text: Markus Zinnecker, 2025

Donnerstag, 2. Januar 2025

Änderung der Änderung

Für den nächsten Stammtisch (05.01.2025) musste leider erneut ein neuer Treffpunkt gefunden werden, denn bei "Frau Huber" war kein Tisch mehr frei.

Franz war so nett den folgenden (und jetzt hoffentlich endgültigen) Treffpunkt für uns zu finden:

Gaststätte "Am Rosenhang"
Oberer Schleisweg 20
86156 Augsburg

Wir treffen uns wie gewohnt um 17 Uhr.

Samstag, 28. Dezember 2024

Stammtisch der Zweitaktfreunde im Januar: Abweichender Treffpunkt.

Aufgrund der Betriebsferien des "Bayerischen Löwen", findet der Stammtisch am 05.01.2025 nicht dort statt, sondern im Restaurant "Frau Huber" in der Tunnelstraße 4 (86156 Augsburg).

http://www.frau-huber.com/

Wir sehen uns dann dort!

Freitag, 27. Dezember 2024

Auf Kontrollgang - Der Schwellentritt-Gustav und die Eisenbahn.

 Zwei Bänder aus Eisen, scheinbar endlose Parallelen, die sich nur scheinbar irgendwo in der Ferne treffen. In Wahrheit sind sie für alle Ewigkeit getrennt. In einem genau bemessenen Maß, kunstvoll berechnet und verlegt durch das Land. Eiserne Klammern halten sie an Ort und Stelle, Schwellen und Schotter sorgen für das rechte Niveau, das genau richtig bemessene, knappe Maß an Beweglichkeit das sie brauchen um nicht zu zerbrechen, wenn hunderttonnenschwere Lasten über sie hinweg donnern. Ihrer Natur nach sind sie Fesseln, dazu bestimmt ein Abweichen vom vorbestimmten Platz, von der vorbestimmten Bahn zu verhindern. Eine Narbe, hineingeschnitten mit dem Messer der Baukunst in das Gesicht der Natur und doch sind sie Teil der Welt, seit einer Zeit an die sich niemand mehr zu erinnern vermag. Wie ein Speer, durch das Herz der Berge getrieben, ein Pfeil der über die endlose Ebene fliegt. Ewig gleich, still, schweigend, bis zum Moment der rasenden Gewalt, wenn die entfesselten Mächte der Wissenschaft ein Gebirge aus Stahl über den eisernen Weg treiben. Zwei Bänder aus Eisen, eine Spurweite getrennt.

Zwischen jenen Bändern war, seit Anbeginn des Eisenbahnzeitalters, der feste Platz eines seltsam anmutenden Menschen. Eines Menschen, der von den Schienen gefesselt war, dessen Arbeitstag darin bestand dem ewig gleichen Weg zu folgen. Sein Schritt glich sich der Norm der Eisenbahn an, wenn er von Schwelle zu Schwelle trat. Sein Blick wanderte beständig zwischen drei Punkten: Den Schienen, den Schwellen und dem, was die Bahnlinie umgab. Schilder, Signale, Telegrafenmasten, gefährlich nah stehende Bäume. Er war die personifizierte Norm, denn die geringste Abweichung von dem, was sein soll, weckte seine Aufmerksamkeit. Veranlasste ein festes Ritual des Bestimmens, Festhaltens und Meldens. Dies war seine Aufgabe. Von Zeit zu Zeit tat er was der Eisenbahn, die er für den fremden Beobachter verkörperte, eigentlich unmöglich ist: Er trat zur Seite, verließ die Schienen und hielt inne. Eine Armeslänge entfernt vom rasenden Inferno der Moderne. Wenn wieder Stille über der Bahn lag, dann setzte er seine Wanderung fort. Strebte weiter jenem fernen Punkt am Horizont zu, an dem sich die ewig getrennten - in der Illusion – bis heute zu vereinigen scheinen.

 

Einer, der ein halbes Leben lag, dem Rhythmus der Bahn folgte, war Onkel Gustav. Freunde nannten ihn den „Schwellentritt-Gustav“, denn selbst im gesegneten Alter von über neunzig Jahren ging er noch mit genau bemessener Schrittlänge. Die Nachwirkung von vielen Jahrzehnten Dienst als Streckengänger. Gustav gehörte noch zu jenen Eisenbahnern alter Art, die nicht nur von, sondern auch mit der Eisenbahn lebten. Eines Menschen, dessen gesamter Lebenswandel, dessen Denken und Handeln, vom Regime der Fahrpläne bestimmt war.

Zu jener Zeit standen in ebenmäßigen Abständen entlang der Bahnlinie kleine Häuser. Die Bahnwärterhäuser, die Dienstwohnungen jener Leute, deren Beruf es war die Strecke zu kontrollieren. Jeden Tag, bei Wind und Wetter, egal ob Sonnenglut oder Winterkälte: Gustav verließ am frühen Morgen das Haus und ging die Bahnstrecke entlang. Solange bis er das Haus seines nächsten Kollegen erreicht hatte. Dort klopfte er an die Tür, stellte sicher, dass die Frau des Kollegen seine Ankunft im Dienstbuch vermerkt hatte, und ging zurück nach Hause, wo er am Abend ankam. Dann setzte er sich in den alten Ledersessel, der neben dem Ofen stand und griff zu Tabaktopf und Pfeife. Während er genussvoll den Rauch zur Decke aufsteigen ließ, donnerte draußen der Nachtexpress vorbei. Gustavs Blick wanderte unwillkürlich zur Standuhr: 8 Uhr 24, exakt pünktlich, auf die Minute, der Zug würde rechtzeitig sein Ziel erreichen. Gustav lächelte dann, denn er war glücklich.

Ein langweiliges, monotones Leben möchte man meinen. Doch weit gefehlt. Gustav liebte seine Eisenbahn, kannte seine Strecke bis ins kleinste Detail. Ein einsamer Abschnitt, fern von großen Städten und ohne Unterbrechungen. Kein Bahnübergang, kein Stellwerk, nichts. „I‘ kenn mein Ried, des kannste mir glauben!“ pflegte er zu sagen.

Sein täglicher Gang war eine einsame Wanderung durch die Ebene. Nur von den vorgeschriebenen Halten an den Streckenfernsprechern unterbrochen. Jede der kleinen Wellblechhütten entlang der Bahn enthielt ein Telefon, darüber nahm Gustav Verbindung mit seinem Vorgesetzten auf. Er wusste dann genau, was los war. Ob der nächste Zug pünktlich sein oder Verspätung haben würde.

Überhaupt, die Züge, Gustav liebte diese Momente. Wenn die Schienen anfingen zu singen und damit bestätigten, was ihm seine stets genauestens gestellte Taschenuhr schon angekündigt hatte. Nämlich das bald der Zug kam. Gustav trat dann zur Seite und sah in jene Richtung, aus der er kommen würde. Viele Züge hat Gustav gesehen. Solche in friedlichen Zeiten, voll froh gestimmter Menschen auf dem Weg in die Ferien. Endlose Wagenreihen voll mit all jenen Dingen, die das Leben leichter und schöner machen. Das Geräusch eines solchen Zuges machte ihn glücklich. Allerdings, noch im hohen Alter, legte sich ein Ausdruck der Trauer auf sein Gesicht, wenn er an andere Züge dachte. An solche, deren schwer schnaufende Dampflokomotiven Wagen voller Soldaten und Kriegsmaterial zogen. An Züge, deren ferner Gruß aus der Dampfpfeife nicht fröhlich klang sondern wie der Wehgesang der Verlorenen. Oder solche, die nur aus zugenagelten Viehwaggons bestanden. Bewacht von finsteren Gestalten in bedrohlichen, schwarzen Uniformen. Züge die nicht jene Freiheit brachten, die Gustav stets in der Eisenbahn sah.

 

Jahre später sah er das letzte der Dampfrösser am Horizont verschwinden. Eine ferne Rauchwolke, die wie die Vergangenheit langsam verblaste. Eine neue Aufgabe tauchte in seiner kleinen Welt auf. Nicht nur das, was unten und links und rechts neben der Bahn war, musste er ansehen, sondern auch das, was an filigranen Masten hoch darüber schwebte. Jenen Draht, der nun das Land durchzog und ein neues Zeitalter ankündigte. Gustav begann sich alt zu fühlen, als man den Draht über seiner Eisenbahn spannte. Die Züge vor denen er jetzt zur Seite trat waren schneller als jene seiner Jugend. Leiser und eleganter, aber sie erschienen ihm auch auf eine seltsame Weise seelenlos zu sein.

 

Als der Schwellentritt-Gustav eines Tages, nach seinem letzten Kontrollgang, nach Hause kam, endete eine Ära. Die neue Generation von Bahnwärtern wohnte nicht mehr in den schmucken Häuschen direkt an der Strecke. Ihre Arbeit war die gleiche wie seine, und doch völlig anders. Kinder einer neuen Zeit, denen er aus seinem Häuschen schweigend hinterher sah. Denn - Gustav lies auch aus diesem Grund nie etwas auf die Eisenbahn kommen - er durfte den Rest seiner Tage in seinem Häuschen ausleben. Irgendwann begann dort seine letzte Reise, direkt neben seiner großen Liebe, der Eisenbahn.

 

In liebevoller Erinnerung an meinen Großonkel, den Schwellentritt-Gustav (1899 – 1996).

 

 Text: Markus Zinnecker, 2024

Samstag, 14. Dezember 2024

Der Prediger von Pennsylvania - Benjamin Lay und der Schutz der Umwelt im 18.-Jahrhundert -

 

Freitagspredigt in Burlington

Eine der spannendsten Personengruppen, die in der frühen Geschichte der nordamerikanischen Kolonien – also jener Gebiete, die später die Vereinigten Staaten von Amerika werden sollten - eine Rolle spielten, sind zweifellos die Quäker. Eine in der Mitte des 17.-Jahrhunderts in England entstandene, christliche Gruppierung. Tief religiöse Menschen, die in Nordamerika eine neue Heimat fanden und teils bedeutenden Einfluss erlangten. Um einen der Ihren soll es hier gehen.

Zu den Besonderheiten der Quäker zählt, dass sie keine Prediger im klassischen Sinne kennen. Trifft sich die Gemeinde, so sprechen die Mitglieder, die sich durch den Heiligen Geist dazu berufen sehen. Es kann also durchaus sein, dass in einer Quäkerversammlung nur ein einzelner Prediger auftritt oder gleich mehrere. So war es auch am Freitag, dem 19. September 1738, in Burlington, einer Stadt im heutigen US-Bundesstaat Vermont. Am Gottesdienst nahm ein kleinwüchsiger Mann teil, der einen weiten Mantel trug. Niemand wusste, dass dieser Mantel nicht nur seinen Körper verhüllte, sondern auch ein speziell präpariertes Buch und ein Schwert verbarg. Das Buch hatte er ausgehöhlt und darin einen Beutel verborgen, der mit rotem Fruchtsaft gefüllt war.

Als die Zeit dafür gekommen war, stand der Mann auf und ging nach vorne. Wer von den Gemeindemitgliedern mit einer freundlichen Predigt über göttliche Gnade und Nächstenliebe gerechnet hatte, wurde böse überrascht. Denn der Kleinwüchsige setzte zu einem wahren Strafgericht an. Der Prediger verkündete, dass Gott der Allmächtige alle Menschen gleich liebe. Egal ob reich oder arm, Frau oder Mann, weiß, schwarz oder von sonstiger Hautfarbe. Nichts davon zählte und so sei es eine fürchterliche Sünde, mit Sklaven zu handeln, selbst welche zu besitzen oder an Geschäften, bei denen Sklaven eine auch noch so geringe Rolle spielten, zu verdienen. Auch wenn der Prediger von körperlich kleiner Gestalt war, seine Worte waren von so großer Macht, dass niemand der Anwesenden wagte zu protestieren. Dies möchte verwundern, denn viele der Quäker von Burlington waren mit dem Transatlantikhandel und dem Sklavenhandel reich geworden. Viele besaßen selbst Sklaven oder waren an Plantagen beteiligt, auf denen Sklaven arbeiten mussten. Der Prediger fuhr fort, den Anwesenden ihre Sündigkeit vorzuhalten. Dann hielt er kurz inne und warf den Mantel von sich.

Erst als Schwert und Buch sichtbar wurden, erfüllte Gemurmel den Raum. Vielleicht waren einzelne Personen sogar aufgestanden, doch all das nützte nichts. Der Kleinwüchsige rief mit lauter Stimme: „So soll Gott das Blut derer vergießen, die ihre Mitgeschöpfe versklaven.“ Mit diesen Worten hob er das Buch hoch über seinen Kopf und stieß mit der anderen Hand das Schwert zwischen die Seiten. Der Fruchtsaft, den alle Anwesenden für Blut halten mussten, spritzte über den Mann und verteilte sich im Raum. Gleichzeitig verkündete der Prediger, der zum Propheten des Unheils geworden war, eine dunkle Zukunft für all diejenigen, die sich an den Sklaven bereichert hatten.

Einige Sekunden später versank die Versammlung der Quäker im Chaos. Der Prophet, der dies völlig still und ohne die geringste Gegenwehr über sich ergehen ließ, wurde von der aufgebrachten Gemeinde ergriffen und vor das Gotteshaus geschleift.


 

Wer war der Prediger?

Der Mann, der nach seinem spektakulären Auftritt in Burlington aus der Quäkerversammlung geworfen wurde, hieß Benjamin Lay. Eine – nicht nur für seine Zeit – höchst bemerkenswerte Persönlichkeit, die leider der Allgemeinheit heute nahezu unbekannt ist.

Geboren am 26. Januar 1682 in der englischen Grafschaft Essex, war seine Biografie eine der typischen Auswanderergeschichten jener Zeit. Aufgrund seiner Behinderung (legt man zeitgenössische Personenbeschreibungen zu Grunde, so ist davon auszugehen, dass Lay an einer Kombination aus Kleinwuchs und der Scheuermann-Krankheit litt), standen ihm nur wenige Berufswege offen. Er ging darum zur See und arbeitete auf verschiedenen Handelsschiffen, bis er 1718 in die damalige britische Kolonie Barbados kam. Deren Wirtschaft beruhte nahezu vollständig auf der Ausbeutung von Sklaven als Plantagenarbeitern. Als Handelsagent erlebte er dort hautnah, welch grausamer und menschenverachtender Behandlung die Sklaven ausgesetzt waren. Seine Überzeugung als radikaler Sklavereigegner fand hier ihren Ursprung.

Lay, der sich in späteren Jahren als Landwirt in der Kolonie Pennsylvania niederließ, beschränkte seine Überlegungen jedoch nicht nur auf menschliche Sklaven. In seiner Überzeugung waren alle Geschöpfe gleichwertig, weshalb er nicht nur die Sklaverei ablehnte und persönlich keinerlei Produkte verwendete, die damit in Zusammenhang standen, sondern auch als Vegetarier lebte.

Er war davon überzeugt, dass ein stilles, ländliches Leben im Einklang mit der Natur anzustreben sei. Diesen Lebensstil hielt er am ehesten dafür geeignet, die seiner Überzeugung nach in allen Lebewesen vorhandene heilige Präsenz Gottes zu würdigen. Demzufolge sei jedes Leben heilig und schützenswert. Neben Sklaverei seien also auch der Konsum von Fleisch, die Todesstrafe und alle anderen Handlungen verdammungswürdig, die das Leben der Mitgeschöpfe entwerten.

 

1735 verstarb Lays Frau. Von da an zog er durch die Lande und predigte in teils spektakulärer Form seine Überzeugungen in den Gemeinden der Quäker. Die letzten Jahre seines Lebens verbrachte er in einer zur Wohnung umgebauten Höhle, die neben den nötigen Utensilien, um weitgehend unabhängig zu überleben, auch seine umfangreiche Bibliothek mit Büchern über Theologie, Philosophie, Biografien, Geschichte und Lyrik enthielt. Benjamin Lay verstarb am 08. Februar 1759.

 

Nachwirkung

Benjamin Lay war in vielerlei Hinsicht eine bemerkenswerte Persönlichkeit. Nicht nur, weil es zu seiner Zeit – und leider ja auch noch lange Zeit danach – sehr ungewöhnlich war, dass Menschen mit Behinderung öffentlich in Erscheinung traten. Zumindest über niveaulose und oft menschenverachtende Zurschaustellung in sogenannten „Freakshows“ hinaus. Lay kann im Rückblick als einer der Wegbereiter des Abolitionismus in den USA gelten. Er war einer der ersten weiter veröffentlichten und gelesenen Autoren zu diesem Thema. Insbesondere sein bereits 1737 veröffentlichtes und später im Verlag von Benjamin Franklin erschienenes Buch All Slave-Keepers That Keep the Innocent in Bondage: Apostates kann als eine Art Samen der Anti-Sklaverei-Bewegung in Nordamerika gelten. Darüber hinaus war er auch einer der ersten, öffentlich von einem größeren Publikum wahrgenommenen Aktivisten für Vegetarismus und Tierrechte.

Nach Lays Lehren war nicht nur das Töten von Tieren zur Gewinnung von Nahrungsmitteln eine Sünde gegen die Heiligkeit des Lebens, sondern auch die Ausbeutung von Tieren zu wirtschaftlichen Zwecken. Darum lehnte er Kleidung aus Wolle ab und trug stattdessen aus Flachsfaser hergestellte Kleidung.

Auch wenn die endgültige Auflösung der Sklaverei in den USA – einem Staat, der zu Lebzeiten Lays noch nicht einmal existierte – erst über ein Jahrhundert nach Lays Tod erfolgte, so kann ihm doch ein nicht geringer Anteil an diesem Erfolg zugeschrieben werden. Denn viele der späteren Abolitionisten wurden durch ihn inspiriert. International ist das Problem der Sklaverei leider bis heute nicht gelöst. Gleiches gilt auch für die vor dem Hintergrund der Klimakrise immer wichtiger werdende Diskussion um neue Arten der Nahrungssicherung und des Naturschutzes. Denn dies bedingt auch, dass wir, genau wie es Benjamin Lay damals tat, immer wieder neu über unseren Umgang mit der Umwelt nachdenken sollten

Weblinks / Quellen / Urheberrecht:

 

https://www.smithsonianmag.com/history/quaker-comet-greatest-abolitionist-never-heard-180964401/

https://getpocket.com/explore/item/the-18th-century-quaker-dwarf-who-challenged-slavery-meat-eating-and-racism

https://ota.bodleian.ox.ac.uk/repository/xmlui/bitstream/handle/20.500.12024/N03401/N03401.html

https://en.wikipedia.org/wiki/Benjamin_Lay

https://de.wikipedia.org/wiki/Scheuermann-Krankheit

 

Text: © Markus Zinnecker, 2024



Samstag, 7. Dezember 2024

Ein Jahrhundert vor Benz - Nicholas Cugnot und die Erfindung des Automobils -

 

Eine andere Welt

Schließen Sie für einen Moment die Augen und stellen Sie sich eine Welt vor, die völlig anders ist als jene Welt, in der Sie sich gerade ganz real aufhalten. Alles, die Art, wie die Gesellschaft organisiert ist, die vorhandene Technik, ja sogar die elementarsten Maßeinheiten der Wissenschaft, nichts ist so, wie Sie es gewohnt sind.

Diese Welt, in die unsere kleine Zeitreise führt, ist das vorrevolutionäre Frankreich. Ludwig XV. herrscht als absoluter Monarch über das Land. Im Rückblick der Geschichte mögen sich zwar schon die ersten Anzeichen der bevorstehenden Revolution abzeichnen, doch für die meisten Menschen des Jahres 1769 ist die Welt so wie sie schon immer war und vermutlich noch für lange Zeit bleiben wird. Dabei wird an einem geheimen Ort - wohlbehütet von den Soldaten des Ancien Régime - eine Revolution vorbereitet, die in ihren Auswirkungen die politischen und gesellschaftlichen Umbrüche, die Frankreich in wenigen Jahren erschüttern werden, noch in ihren Schatten stellt. Um diese Revolution soll es hier gehen, doch um diese Geschichte zu erzählen, müssen wir noch einmal einige Jahre weiter in die Vergangenheit zurückspringen.

 

 

Genese einer Idee

Im Jahr 1764 erhielt ein Offizier der französischen Artillerie den Befehl, sich bei seinem Vorgesetzten zu melden. Der Mann, dessen Name Nicholas Joseph Cugnot war, wird wohl nur eine routinemäßige Besprechung erwartet haben, als er das Staabsgebäude betrat. Er sollte sich damit gewaltig geirrt haben. Denn General Jean-Baptiste Vaquette de Gribeauval erteilte ihm einen Auftrag, mit dem er nicht gerechnet haben dürfte. Er sollte unter strengster Geheimhaltung einen dampfbetriebenen, mechanischen Transportwagen für schwere Artilleriegeschütze entwickeln. Insbesondere, um Belagerungsgeschütze zu bewegen. Denn die französische Armee hatte erfahren, dass in der Schweiz entsprechende Experimente angestellt wurden. Zu jenem Zeitpunkt zwar noch ohne Erfolg, aber die Sache war natürlich trotzdem interessant.

Cugnot war nun ausgewählt worden, den Schweizern zuvorzukommen. Grund für diese Wahl war hauptsächlich, dass Cugnot bereits Jahre zuvor durch Entwicklungsarbeiten an einem neuen Gewehrtyp aufgefallen war und zudem bereits offen über die Idee gesprochen hatte, eine der immer populärer werdenden Dampfmaschinen in einen Wagen zu bauen und dieses Fahrzeug für militärische Zwecke einzusetzen.

In den folgenden Jahren arbeitete Cugnot konzentriert an der Entwicklung einer derartigen Maschine. Nach mehreren Funktionsmodellen wurde im Jahr 1769 ein Prototyp in Paris präsentiert und am 22. April des Folgejahres zum ersten Mal auf einer längeren Strecke gefahren. Die knapp 10 Kilometer lange Strecke vom Arsenal in Paris zum Schloss von Vincennes konnte mit dem Fardier à Vapeur (franz. für Dampfkarren) in etwa drei Stunden zurückgelegt werden.

Nachwirkung

Es ist wieder der moderne Blick in den Rückspiegel der Geschichte, der heute den Schluss zulässt, dass diese Demonstrationsfahrt den Beginn einer Revolution hätte bedeuten können. Doch es kam nicht dazu. Politische Umstände und wohl auch Unverständnis der Verantwortlichen führten dazu, dass die Armee das Projekt fallen ließ. Der Fardier wurde im Arsenal eingelagert und Cugnot zum Dank mit einer Pension bedacht.

Cugnot floh 1789 vor der Französischen Revolution nach Brüssel, bis ihn Napoleon Bonaparte einlud, nach Paris zurückzukehren. Dort verstarb er im Jahre 1804 im Alter von 79 Jahren.

Ungeklärt bleibt, ob Cugnot jemals das Musée des Arts et Métiers besucht hat. Im Museum des Instituts für Kunst und Wissenschaft ist der Fardier seit dem Jahr 1800 ausgestellt. Bis heute kann er dort besichtigt werden, und es existiert weltweit eine Reihe von funktionsfähigen Nachbauten. Das Originalfahrzeug im Museum wurde zur Inspirationsquelle für zahlreiche andere Erfinder. Unter anderem auch für den jungen Étienne Lenoir, der zu einem der Väter der Automobilentwicklung werden sollte.

Eine unbeweisbare und höchstwahrscheinlich unwahre Legende ist hingegen, dass Cugnot bei der Demonstrationsfahrt im Jahr 1770 gegen die Stadtmauer von Paris gefahren sei und darum nicht nur das Automobil an sich, sondern auch den Autounfall erfunden habe. Es existieren keine zeitgenössischen Quellen für diese Geschichte, darum ist anzunehmen, dass sie später erfunden wurde.

Was bleibt ist die Geschichte einer faszinierenden Erfindung, die ihrer Zeit in vieler Hinsicht voraus war. Eine Idee, die vor zweieinhalb Jahrhunderten geboren wurde und die Menschheit bis heute nicht losgelassen hat. Eine Idee, der man wohl getrost unterstellen kann, dass sie weltbewegend gewesen sei: Die Idee des Automobils. Der aus sich selbst heraus bewegten Maschine. 

 

Weblinks / Urheberrecht

https://www.traumautoarchiv.de/html/1356.html

https://de.wikipedia.org/wiki/Nicholas_Cugnot

https://lefardierdecugnot.fr/inventeur

https://www.youtube.com/watch?v=UMadF_YkQEg

© Text: Markus Zinnecker, 2024

Bild: Schnittzeichnung des Fardier, gemeinfreies Werk

https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Nicholas_Cugnots_Dampfwagen.jpg