Donnerstag, 6. Februar 2025

In den Tiefen der Zeit

 

Vor einigen Tagen habe ich ein Kind beim Spielen beobachtet. Ein Mädchen, vielleicht vier oder fünf Jahre alt. Sie saß neben ihrer Mutter im Café und beschäftigte sich mit ein paar Plastik-Dinosauriern. Ein dunkelgrüner T-Rex und ein neonoranger Stegosaurier. Zwei Kreaturen, deren reale Inkarnationen vor uralter Zeit über diesen Planeten wanderten – und die höchstwahrscheinlich nicht dunkelgrün und garantiert nicht neonorange waren. Aber darum geht es nicht. Mir hat dieser kurze Anblick des spielenden Kindes nämlich einen Gedanken eingegeben, um den es hier gehen soll. Es geht um die sogenannte tiefe Zeit. Also Zeiträume, die für einen Menschen kaum verständlich und gar nicht zu überblicken sind.

Perspektive der Zeit

Das Universum in seiner Gesamtheit ist ungefähr 14 Milliarden Jahre alt, unser Sonnensystem kommt auf gerade mal etwa 4,5 Milliarden Jahre. Das alleine sind Zeiträume, die nicht zu fassen sind. Doch noch etwas ist bemerkenswert: Die realen Vorbilder der Spielzeugdinos sind, aus unserer Sicht, auch Wesen der tiefen Zeit. Stegosaurus stenops – das ist das Vieh mit den Dachziegeln auf dem Rücken und dem Morgenstern am Schwanzende – existierte vor etwa 150 Millionen Jahren. Tyrannosaurus rex  - der bekanntlich als gruseliges Monster in den Filmen des Herrn Spielberg zu Weltruhm kam - latschte vor knapp 70 Millionen Jahren über diesen Planeten. Er gehörte zu den glücklosen Kreaturen der Kreidezeit, jenem Erdzeitalter, das mit dem berühmten Meteoriteneinschlag, der die Dinosaurier ausrottete, endete. Eine simple Rechnung zeigt nun, dass zwischen Stegosaurier und T-Rex etwa 80 Millionen Jahre liegen. Das sind gewaltige 10 Millionen Jahre mehr als zwischen unsererZeit und jenem Unglückstag, an dem der Meteorit einschlug. Die Begegnung am Cafétisch ist also nicht nur in ihrer Farbwahl höchst unrealistisch.

Aber auch die 70 Millionen Jahre zwischen T-Rex und uns sind ja nun kein Pappenstiel. Sie sahen so gewaltige Veränderungen, dass wir den Planeten Erde von damals kaum wiedererkennen würden. Denn seien wir mal ehrlich: Vor dem Hintergrund dieser Zeitskalen ist die Menschheit eine einzige Krabbelgruppe.

Vor einigen Jahren grub man in Sambia ein uraltes, bearbeitetes Stück Holz aus. Reste einer nicht mehr genau zu erkennenden Struktur aus uralter Zeit. Grobe 500.000 Jahre war es, durch ungewöhnlich gute Bedingungen erhalten geblieben und damit der älteste Beleg für Holzbearbeitung, den wir bisher kennen. Eine halbe Million Jahre klingt nach den bisher aufgeführten Zeiträumen wie etwas, das gerade einmal vorgestern war. Doch auch hier sollte man sich nicht täuschen lassen. Wer auch immer damals die Hölzer bearbeitet hat, war kein Mensch wie Sie und ich. Es war jemand, der einer anderen, heute ausgestorbenen Menschenspezies angehörte. Homo sapiens, also uns, gibt es erst seit gut 300.000 Jahren. Da waren die Holzbrocken in Sambia schon gute 200.000 Jahre alt. Das ist sehr alt. Um Größenordnungen älter als all jene gewaltigen Kulturleistungen unserer eigenen Geschichte, die wir heute so gerne bestaunen. Vergessen Sie die Pyramiden, Jericho oder die Höhlenmalereien von Leang Karampuang in Indonesien. Letztere sind grob 50.000 Jahre alt, also quasi neu.

Grob kann man das Zeitalter des modernen Menschen, also jene letzten 300.000 Jahre, in zwei Abschnitte einteilen: In die prähistorische Zeit, aus der wir außer einiger Fundstücke nichts haben und in die geschichtliche Zeit, also die Zeitspanne, aus der wir Schriftzeugnisse besitzen. Diese ist im Vergleich erschreckend kurz.

In der chinesischen Provinz Henan wurden einige Schildkrötenpanzer gefunden, die etwa achteinhalb Jahrtausende alt sind und auf denen sich Markierungen befinden, die vielleicht Schriftzeichen sein könnten. Diese Jiahu-Schrift genannten Zeichen sind möglicherweise die ältesten schriftlichen Zeugnisse der Menschheit. Was sie bedeuten, weiß jedoch niemand mehr, vermutlich standen sie im Zusammenhang mit Kulthandlungen. Die ältesten für uns heute noch verständlichen Schriftdokumente stammen von den Sumerern und sind etwa fünftausend Jahre alt. Die meisten dieser Dokumente betreffen den Handel und die Verwaltung, doch sind uns von den Sumerern auch kulturelle Texte überliefert worden.

Das bekannteste Werk dieser frühen Zeit dürfte das Gilgamesch-Epos sein. Die Geschichte des Königs von Uruk, der sich auf die Suche nach dem Quell der Unsterblichkeit macht. Ein Stoff, der in seiner Botschaft bis heute fesselt. Nicht nur als Zeugnis einer für uns unvorstellbar weit zurückliegenden Epoche. So unvorstellbar weit die Zeit des unbekannten Verfassers dieses Epos zurückliegt, so unvorstellbar wäre es für diesen Menschen – über den wir absolut nichts wissen -, dass sein Werk noch immer in den Buchhandlungen dieser Welt und natürlich auch im Internet zu finden ist.

 

Die Zeit eilt

Lassen Sie uns noch einen Zeitsprung machen: aus der Zeit der Sumerer, einige Jahrtausende in die Zukunft. Vorbei an den Großreichen der Ägypter und Alexanders, an Aufstieg und Fall Roms, an den Zeitaltern der mittelamerikanischen Hochkulturen und dem Zeitalter der Entdecker und Kolonialherren. Hinein in eine Zeit, die uns deutlich vertrauter erscheint: in das frühe 20.-Jahrhundert.

Stellen Sie sich eine Straße in einer Großstadt vor. Irgendwo in Europa oder Nordamerika. Das Jahr ist 1922 und die „Goldenen Zwanziger“ sind voll im Gange. Sie stehen vor einem Kino und betrachten die große Leuchttafel über dem Eingang. Ein Name, der mit einer ziemlich großen Wahrscheinlichkeit dort steht, ist Charlie Chaplin. Der 1889 in London geborene Schauspieler, Regisseur und Filmproduzent war einer der ersten echten Weltstars im modernen Sinne. Er gehörte zu den prägendsten Figuren der frühen Filmindustrie, und sein Werk wirkt zweifellos bis heute nach. Gleichzeitig steht er aus heutiger Sicht aber auch für eine archaische Art des Films. Für den Spielfilm im klassischen Sinne, der noch sehr deutlich in der jahrhundertealten Tradition des Theaters steht. Der moderne, durch technische Effekte mitbestimmte Film, der nicht nur von schauspielerischer Leistung und kunstvoller Inszenierung lebt, sondern auch von den technischen Finessen der Spezialeffekte, die zur Hochzeit Chaplins noch im Entstehen begriffen waren. Darum ist es für viele erstaunlich, doch Chaplin, der dem klassischen Film in seiner Frühzeit entstammte und im Dezember 1977 verstarb, lang genug lebte, um den ersten der Star-Wars-Filme gesehen zu haben. Einen Film, der zu seiner Zeit bahnbrechend war und den Weg in eine neue Epoche der Filmkunst ebnete.

Wie kurz ist ein Menschenleben? Wie schnell verändert sich die Welt? Charlie Chaplin, der hier nochmal als Musterexemplar herhalten soll, wurde 88 Jahre alt. In dieser Zeit erlebte er zwei Weltkriege, den Untergang des britischen Weltreiches sowie den Aufstieg des Kommunismus in der Sowjetunion und China, um nur einige der weltverändernden Dinge zu nennen, die sich während seiner Lebenszeit abspielten. Die Welt, in der er verstarb, war eine völlig andere, als die, in die er hineingeboren wurde. Ein Schicksal, das keinesfalls einzigartig ist, sondern eher den Normalzustand des Menschseins darstellt. Er war einfach nur ein besonders berühmter Protagonist. Ob sein Ruhm jedoch Jahrtausende überdauern wird, so wie der des Königs Gilgamesch, das kann nur die Zeit zeigen.

 

Was hier präsentiert ist, sind Tatsachen, Fakten, die sich in jedem besseren Lexikon – im Internet sowieso – ohne große Mühen recherchieren lassen. Insofern sollte es also niemanden überraschen, dennoch lösen solche Dinge oft Staunen aus.

Vor dem Hintergrund all dieser Fakten können sich aber auch Fragen eröffnen: „Wohin geht es mit uns?“ „Was wird die Zukunft bringen?“ Es sind Fragen, die nicht beantwortbar sind. Denn so wenig wie sich ein Stegosaurier einen T-Rex hätte vorstellen können, oder die alten Sumerer eine Vorstellung von Kinospezialeffekten hatten, so wenig können wir uns eine ferne Zukunft vorstellen. Wir können spekulieren und unsere Fantasie einsetzen. Dabei kann es vorkommen, dass wir uns die Zukunft bauen, die wir uns wünschen.

Lassen Sie uns für einen Moment in die Filmwelt zurückkehren: in die späten 1960er-Jahre und in ein Filmstudio in Kalifornien. Eine Kollegin Chaplins spielt dort gerade eine der ikonischsten Rollen der Filmgeschichte. Der Name der Schauspielerin war Nichelle Nichols und die von ihr verkörperte Figur die der Nyota Uhura, Kommunikationsoffizier auf dem Raumschiff Enterprise. Damals, als ein solches Gerät noch reine Fantasie war, verwendete sie einen kleinen Kopfhörer, der an einem ihrer Ohren befestigt war. Ein kleines – zu jener Zeit aber rein fiktives – Wunder der Technik, über das sich noch die seltsamsten Aliens kontaktieren ließen. Dieses Gerät hat, wie viele andere fantastische Erfindungen in Science-Fiction-Filmen und Büchern, eine Entwicklung in der realen Welt inspiziert. Heute kann jeder Handybenutzer einen solchen Kopfhörer verwenden, Kaufhäuser, Elektroläden und sogar Tankstellen und Discounter bieten diese Dinger für ein paar Euro an. Ein kleines Stück Zukunft für wenig Geld. Die Software mancher moderner Handys ist auch schon in der Lage, Sprache simultan und voll automatisch zu übersetzen, falls man mit jemandem sprechen möchte, den man nicht versteht. Nur das Warpschiff um die Aliens zu besuchen, das fehlt uns noch.

 

Vermächtnis der Zeit

Wir können in die Vergangenheit zurückblicken, doch die Zeit kennt nur eine Richtung. Unerbittlich, gnadenlos und ohne jedes Zögern nach vorwärts in eine Zukunft, in die wir nicht sehen können. Welche unserer heutigen Fantasien werden einmal Realität werden? Wir wissen es nicht.

Der Blick zurück eröffnet aber auch eine Frage für die Zukunft. Was wird einmal bleiben? Was wird von uns noch übrig sein, welche Spuren hinterlassen wir in einer fernen Zukunft. Die Astronomie ist auch eine Wissenschaft der Zeitreise, denn der Blick in die Tiefen des Alls ist auch ein Blick in die Zeit. Denn das Licht, das heute die Instrumente dieser Wissenschaft erreicht, ist bisweilen uralt. Ein Bote aus der Zeit, als die ersten schwachen Lichtstrahlen der ersten Sterne einen finsteren jungen Kosmos erhellten. In mancher Hinsicht wissen wir darum mehr über die frühen Anfänge des Universums als über die, in Relation, noch junge Geschichte unseres eigenen Planeten. Die Fossilien von Dinosauriern und anderen – teils noch älteren – Kreaturen, von denen am Anfang die Rede war, stellen einen winzigen Ausschnitt aus dem großen Buch der Erdgeschichte dar. Wir wissen nicht viel über jene lang zurückliegende Epoche unserer Welt. Es bleibt viel Raum für Spekulationen.

Wäre es nicht möglich, dass sich aus einer Art Dinosaurier eine intelligente Spezies entwickelt hat? So wie wir von primitiven Säugetieren abstammen? Zeit genug wäre dafür gewesen. Zeit für den Aufstieg und Untergang einer mächtigen Zivilisation mit all ihren technologischen und kulturellen Errungenschaften. Was wäre nach all den Millionen von Jahren davon übrig? Ein paar Spuren in Sedimentschichten und Gesteinsablagerungen. Winzige Spuren und vielleicht, mit extrem viel Glück, ein Fossil, das noch auf seine Entdeckung harrt. Möglich wäre es, doch es gibt keinen Beweis dafür. Nichts deutet auf die Existenz intelligenter Reptilien hin und selbst wenn es diese Zivilisation gegeben hat, es ist durchaus denkbar, dass die Zeit alle Spuren davon vom Angesicht der Welt getilgt hat.

 

Dies sind Gedanken, die überdeutlich vor Augen führen können, wie winzig und zerbrechlich unsere Zivilisation eigentlich ist. Soviel wir uns auch auf sie einbilden mögen, letztlich sind wir nichts weiter als verschwindend winzige Bewohner eines winzigen Staubkornes, das durch eine völlig unbedeutende Ecke des Universums driftet. Was wird einst von uns bleiben? Was wird das unausweichliche Ende unserer Welt überdauern? Welche Spuren werden wir zurücklassen?

Wenn von heute auf morgen sämtliche Menschen auf der Welt verschwinden würden, was wäre dann übrig? Wir selbst würden in kürzester Zeit zerfallen, vielleicht würden ein paar Exemplare als Fossilien erhalten werden, doch dies würde kaum auf mehr hindeuten, als auf eine ausgestorbene Spezies von hoch entwickelten Primaten. Der Unterschied zwischen uns und einem Schimpansen ist aus biologischer Sicht minimal. Einige wenige unserer technologischen Errungenschaften, insbesondere Bauwerke, würden vielleicht einige Jahrtausende überdauern, bevor sie von der unerbittlichen Erosion zermalmt wurden. Etwa genauso lange würde es dauern, bis auch noch das letzte Stückchen Weltraumschrott aus dem Orbit gestürzt und in der Erdatmosphäre verglüht wäre.

Einige hunderttausend Jahre würden vergehen, bis die tödlichsten der menschlichen Errungenschaften vergangen sind. Haufen von hochradioaktivem Material, das langsam, Partikel für Partikel, zerfällt. Ein makabres Grablicht auf dem Epitaph der Menschheit.

In etwa fünf Milliarden Jahren wird die Sonne ihre letzten Wasserstoffatome fusionieren. Ein unaufhaltsamer Prozess, der Übergang zur Heliumfusion, wird dazu führen, dass sich der freundliche kleine Stern in ein Monster verwandelt. Ein gewaltiger roter Riese wird sich aufblähen und die beiden innersten Planeten verschlingen. Merkur und Venus werden im nuklearen Feuer brennen und zermalmt werden, als hätten sie nie existiert. Erde und Mars werden sich sehr ähnlich werden. Dem Stern nahe, glutheiße, völlig leblose Planeten. Die innersten Leibwächter einer sterbenden Gottheit.

Der rote Riese wird nur kurz leben. Nach nur etwa zwei bis drei Milliarden Jahren wird er seine äußerste Hülle abstoßen und zu einem winzigen, nachglühenden, kümmerlichen Rest werden. Ein weißer Zwerg, der keine Fusion mehr erhalten kann, sondern nur noch langsam verglimmt. Erde und Mars werden dann nicht mehr existieren. Der Druck des Sternentodes wird sie zerfetzen. Vielleicht überleben die äußeren Gasplaneten. Jupiter, Saturn, Uranus und Neptun. Eisige Grabwächter, die langsam in der ewigen Finsternis versinken werden.

 

Mit ein wenig Glück wird es aber auch dann, in jener fernen Zukunft, noch Zeugen geben. Zwei winzige Inseln der Erinnerung, an die lange vergessenen Bewohner eines Sonnensystems, das dann nicht mehr existieren wird. An hoffnungsvolle Kinder des Universums, die zu den Sternen aufsahen und hofften, dass ihnen von dort freundliche Augen zuzwinkern würden.

Voyager 1 und Voyager 2, die Namen zweier Raumsonden, die in den 1970er Jahren gestartet wurden. Sonden, die etwa fünfzig Jahre lang Daten aus dem tiefen Weltall zur Erde zurücksandten und dann langsam ihre Funktion einstellten. Tote aber doch beredete Botschafter, auf dem Weg in die interstellare Leere. Doch das All kann auch gnädig sein, und wenn es das zu den beiden Reisenden ist, so werden sie bis in alle Ewigkeit durch die unendliche Finsternis fliegen. Vielleicht, nur ganz vielleicht, wird sie jemand finden. Irgendwann in einer sehr, sehr fernen Zukunft. Milliarden von Jahren von heute und unvorstellbar für uns und doch nur ein Wimpernschlag auf den Skalen der tiefen Zeit.

 

 

 

Quellen:

Hinweis: Die Zeitangaben in diesem Artikel sind stark gerundet und nicht absolut präzise.

https://dinodata.de/animals/dinosaurs/pages_s/stegosaurus.php

https://dinodata.de/animals/dinosaurs/pages_t/tyrannosaurus.php

https://www.spektrum.de/news/sambia-die-aelteste-holzstruktur-der-welt-ist-467-000-jahre-alt/2182800

https://humanorigins.si.edu/evidence/human-fossils/species/homo-sapiens

https://www.sci.news/archaeology/leang-karampuang-painting-13077.html

http://news.bbc.co.uk/2/hi/science/nature/2956925.stm

https://www.planet-wissen.de/natur/weltall/sonne/pwiewirddiesonneewigscheinen100.html

https://fis.uos.de/vivouos/display/wf1v4

https://www.fe-lexikon.info/lexikon/voyager

 

Urheberrecht:

Text: Markus Zinnecker, 2025

Dienstag, 14. Januar 2025

Welche Wahrheit darfs denn sein?

Wahrheit ist eines der Themen, mit denen sich die Menschheit am meisten befasst hat und noch immer befasst. Von den zahllosen Religionsstiftern, Philosophen, Moralpredigern und Sinnsuchern der Geschichte bis hin zu Journalisten, Verschwörungstheoretikern und Politikern unserer Tage: Wahrheit ist ein großes Thema. Ja, in dieser Liste der Suchenden – die alles nur nicht abschließend ist – sind auch Personengruppen aufgeführt, die man im Allgemeinen nicht zwingend mit Wahrheit in Verbindung bringt. Dennoch gehören sie hierher. Denn es soll um die Wahrheit selbst, um die Natur der Sache also, gehen. Nicht um deren Inhalte. Das ist tatsächlich kein Widerspruch in sich, auch wenn es im ersten Moment vielleicht so wirken mag.

Denn Wahrheit ist ja nicht gleich Wahrheit. Auch wenn immer wieder behauptet wird, es gäbe nur die eine und absolute Wahrheit, so ist das eben nicht immer so. Es sei hier einfach mal behauptet, dass es drei verschiedene Wahrheiten gibt. Diesen wollen wir ein wenig auf die Spur kommen.

 

Absolute Wahrheiten

Am uninteressantesten sind die absoluten Wahrheiten, die an denen es nichts zu rütteln gibt. Eine solche Wahrheit ist zum Beispiel die folgende Aussage: „Der Tiger ist ein Fleischfresser.“ Es gibt an dieser Aussage nichts zu bezweifeln, das weiß jeder und, was ja noch wichtiger ist, es ist auch absolut beweisbar. Beobachtungen von Tigern in der freien Natur wie in Gefangenschaft, physiologische Analysen von Tigern und alle möglichen anderen wissenschaftliche Verfahren werden genau zu diesem Ergebnis führen.

Absolute Wahrheiten haben einen großen Vorteil: Sie werden nur sehr selten angezweifelt. Darum spielen sie im großen Diskurs rund um die Wahrheitssuche meist keine große Rolle. Hier seien sie darum auch schnell abgehandelt.

 

Relative Wahrheiten

Spannender als absolute Wahrheiten sind die relativen Wahrheiten. Denn bei ihnen kommt es darauf an. Eine solche relative Wahrheit wäre zum Beispiel: „Rosinen sind eine schmackhafte Speise.“ Nun könnte man sich wunderbar eine angeregte Diskussion zwischen Menschen vorstellen, die gerne Rosinen essen und solchen, die den verschrumpelten Dingern absolut nichts abgewinnen können. Es gibt aber auch noch eine dritte Gruppe in dieser Diskussion: Diejenigen, die Rosinen unter bestimmten Umständen mögen, unter anderem aber absolut abscheulich finden.

So ließen sich etwa drei, für die jeweilige Person absolut richtige und wahre, Aussagen formulieren:

„Rosinen schmecken gut.“

„Rosinen sind ekelhaft.“

„Rosinen im Kuchen schmecken gut, aber im Müsli mag ich sie nicht.“

Lassen wir diese drei Aussagen einmal so stehen, welcher man persönlich zustimmt, ist erstmal egal. Wer von den drei sagt die Wahrheit? Nun, eigentlich alle und gleichzeitig auch niemand. Das mag wie ein Widerspruch klingen, ist jedoch die logische Schlussfolgerung aus der Betrachtung. Denn für jeden der drei Diskussionsteilnehmer ist die jeweilige Aussage absolut wahr, die beiden anderen sind jedoch gleichzeitig absolut unwahr. Was zutrifft, kommt auf die jeweilige Person an.

Relative Wahrheiten sind eine weit verbreitete Form von Wahrheit. Sie begegnen uns täglich in mannigfaltiger Gestalt. Etwa bei der Frage, welche Partei denn nun das beste Programm für die nächste Wahl hat oder welche Sängerin die schönste Stimme hat oder welche Sportart die beste sei. Es sind Fragen, für die es keine allgemeingültigen Antworten geben kann.

Das heißt aber natürlich nicht, dass man über solche Wahrheiten nicht diskutieren kann. Man kann es und es wird ja auch viel getan, allerdings oft unter der falschen Prämisse, jemand zu seinem eigenen Standpunkt bekehren zu wollen. Da es keine allgemeine Antwort geben kann, bleibt hier nichts anderes übrig, als den bestmöglichen Kompromiss zu finden.

 

Flexible Wahrheiten

Die vermutlich spannendste Kategorie von Wahrheiten sind die flexiblen (oder veränderlichen) Wahrheiten. Denn manche Dinge können ihren Wahrheitsgehalt tatsächlich ändern.

Wenn Sie die Gelegenheit haben, dann schauen Sie mal in ein Schulbuch für den Physikunterricht aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Dort wird man den folgenden Satz finden: „Das Atom ist das kleinste Teil, aus dem die Materie aufgebaut ist und unteilbar.“

Jeder Mensch, der heute lebt und auch nur einen winzigen Hauch von physikalischer Bildung genossen hat, wird natürlich sofort sagen: „Was für ein Unsinn.“ Ja, heute ist es das, aber damals war es wahr, einfach weil man es nicht besser wusste. Lebensbereiche, die der Veränderung, dem Fortschreiten, der Weiterentwicklung in irgendeiner Form unterliegen, sind das Feld der flexiblen Wahrheiten. Wissenschaft und Technik sind voll davon und leben letztlich davon, sich selbst des Irrtums zu überführen. Auch wenn es leider oft missverstanden wird, gerade die Wissenschaft braucht den Irrtum, den Irrweg und den Fehler, um in kleinen Schritten zu besserem Verständnis zu gelangen und dann, irgendwann vielleicht einmal, zu einem bestimmten Thema eine absolute Wahrheit zu finden.

Dinge wie die allgemeine Gesellschaftsform und die Sprache unterliegen dem Wandel und sind damit oft von flexiblen Wahrheiten durchsetzt. Das Schulbuch von anno dunnemals, das dem Atom die Unteilbarkeit unterstellt, mag heute falsch sein, doch es ist auch zugleich richtig als Dokument einer Zeit, in der man es eben nicht besser wusste.

Historiker nennen das die „kritische Quellenbeurteilung“. Damit ist gemeint, dass man mit den heute unwahren Wahrheiten der Vergangenheit vorsichtig sein muss. Doch bei richtiger Anwendung kann man durch sie auch verstehen, wie die Menschen der jeweiligen Zeit dachten und die Welt sahen.

 

Es ist eben nicht so einfach mit der Wahrheit. Darum bleibt abschließend wohl nur festzuhalten, dass man sich an das halten sollte, was man selbst für wahr erkannt hat. Gleichzeitig aber auch immer offen – oder zumindest verständnisvoll - sein soll für die Wahrheiten anderer. Außerdem auf der Hut, dass man nicht einer überholten, veränderlichen Wahrheit hinterherläuft. Diese könnte ein Irrweg sein.

 

Text: Markus Zinnecker, 2025

Donnerstag, 2. Januar 2025

Änderung der Änderung

Für den nächsten Stammtisch (05.01.2025) musste leider erneut ein neuer Treffpunkt gefunden werden, denn bei "Frau Huber" war kein Tisch mehr frei.

Franz war so nett den folgenden (und jetzt hoffentlich endgültigen) Treffpunkt für uns zu finden:

Gaststätte "Am Rosenhang"
Oberer Schleisweg 20
86156 Augsburg

Wir treffen uns wie gewohnt um 17 Uhr.

Samstag, 28. Dezember 2024

Stammtisch der Zweitaktfreunde im Januar: Abweichender Treffpunkt.

Aufgrund der Betriebsferien des "Bayerischen Löwen", findet der Stammtisch am 05.01.2025 nicht dort statt, sondern im Restaurant "Frau Huber" in der Tunnelstraße 4 (86156 Augsburg).

http://www.frau-huber.com/

Wir sehen uns dann dort!

Freitag, 27. Dezember 2024

Auf Kontrollgang - Der Schwellentritt-Gustav und die Eisenbahn.

 Zwei Bänder aus Eisen, scheinbar endlose Parallelen, die sich nur scheinbar irgendwo in der Ferne treffen. In Wahrheit sind sie für alle Ewigkeit getrennt. In einem genau bemessenen Maß, kunstvoll berechnet und verlegt durch das Land. Eiserne Klammern halten sie an Ort und Stelle, Schwellen und Schotter sorgen für das rechte Niveau, das genau richtig bemessene, knappe Maß an Beweglichkeit das sie brauchen um nicht zu zerbrechen, wenn hunderttonnenschwere Lasten über sie hinweg donnern. Ihrer Natur nach sind sie Fesseln, dazu bestimmt ein Abweichen vom vorbestimmten Platz, von der vorbestimmten Bahn zu verhindern. Eine Narbe, hineingeschnitten mit dem Messer der Baukunst in das Gesicht der Natur und doch sind sie Teil der Welt, seit einer Zeit an die sich niemand mehr zu erinnern vermag. Wie ein Speer, durch das Herz der Berge getrieben, ein Pfeil der über die endlose Ebene fliegt. Ewig gleich, still, schweigend, bis zum Moment der rasenden Gewalt, wenn die entfesselten Mächte der Wissenschaft ein Gebirge aus Stahl über den eisernen Weg treiben. Zwei Bänder aus Eisen, eine Spurweite getrennt.

Zwischen jenen Bändern war, seit Anbeginn des Eisenbahnzeitalters, der feste Platz eines seltsam anmutenden Menschen. Eines Menschen, der von den Schienen gefesselt war, dessen Arbeitstag darin bestand dem ewig gleichen Weg zu folgen. Sein Schritt glich sich der Norm der Eisenbahn an, wenn er von Schwelle zu Schwelle trat. Sein Blick wanderte beständig zwischen drei Punkten: Den Schienen, den Schwellen und dem, was die Bahnlinie umgab. Schilder, Signale, Telegrafenmasten, gefährlich nah stehende Bäume. Er war die personifizierte Norm, denn die geringste Abweichung von dem, was sein soll, weckte seine Aufmerksamkeit. Veranlasste ein festes Ritual des Bestimmens, Festhaltens und Meldens. Dies war seine Aufgabe. Von Zeit zu Zeit tat er was der Eisenbahn, die er für den fremden Beobachter verkörperte, eigentlich unmöglich ist: Er trat zur Seite, verließ die Schienen und hielt inne. Eine Armeslänge entfernt vom rasenden Inferno der Moderne. Wenn wieder Stille über der Bahn lag, dann setzte er seine Wanderung fort. Strebte weiter jenem fernen Punkt am Horizont zu, an dem sich die ewig getrennten - in der Illusion – bis heute zu vereinigen scheinen.

 

Einer, der ein halbes Leben lag, dem Rhythmus der Bahn folgte, war Onkel Gustav. Freunde nannten ihn den „Schwellentritt-Gustav“, denn selbst im gesegneten Alter von über neunzig Jahren ging er noch mit genau bemessener Schrittlänge. Die Nachwirkung von vielen Jahrzehnten Dienst als Streckengänger. Gustav gehörte noch zu jenen Eisenbahnern alter Art, die nicht nur von, sondern auch mit der Eisenbahn lebten. Eines Menschen, dessen gesamter Lebenswandel, dessen Denken und Handeln, vom Regime der Fahrpläne bestimmt war.

Zu jener Zeit standen in ebenmäßigen Abständen entlang der Bahnlinie kleine Häuser. Die Bahnwärterhäuser, die Dienstwohnungen jener Leute, deren Beruf es war die Strecke zu kontrollieren. Jeden Tag, bei Wind und Wetter, egal ob Sonnenglut oder Winterkälte: Gustav verließ am frühen Morgen das Haus und ging die Bahnstrecke entlang. Solange bis er das Haus seines nächsten Kollegen erreicht hatte. Dort klopfte er an die Tür, stellte sicher, dass die Frau des Kollegen seine Ankunft im Dienstbuch vermerkt hatte, und ging zurück nach Hause, wo er am Abend ankam. Dann setzte er sich in den alten Ledersessel, der neben dem Ofen stand und griff zu Tabaktopf und Pfeife. Während er genussvoll den Rauch zur Decke aufsteigen ließ, donnerte draußen der Nachtexpress vorbei. Gustavs Blick wanderte unwillkürlich zur Standuhr: 8 Uhr 24, exakt pünktlich, auf die Minute, der Zug würde rechtzeitig sein Ziel erreichen. Gustav lächelte dann, denn er war glücklich.

Ein langweiliges, monotones Leben möchte man meinen. Doch weit gefehlt. Gustav liebte seine Eisenbahn, kannte seine Strecke bis ins kleinste Detail. Ein einsamer Abschnitt, fern von großen Städten und ohne Unterbrechungen. Kein Bahnübergang, kein Stellwerk, nichts. „I‘ kenn mein Ried, des kannste mir glauben!“ pflegte er zu sagen.

Sein täglicher Gang war eine einsame Wanderung durch die Ebene. Nur von den vorgeschriebenen Halten an den Streckenfernsprechern unterbrochen. Jede der kleinen Wellblechhütten entlang der Bahn enthielt ein Telefon, darüber nahm Gustav Verbindung mit seinem Vorgesetzten auf. Er wusste dann genau, was los war. Ob der nächste Zug pünktlich sein oder Verspätung haben würde.

Überhaupt, die Züge, Gustav liebte diese Momente. Wenn die Schienen anfingen zu singen und damit bestätigten, was ihm seine stets genauestens gestellte Taschenuhr schon angekündigt hatte. Nämlich das bald der Zug kam. Gustav trat dann zur Seite und sah in jene Richtung, aus der er kommen würde. Viele Züge hat Gustav gesehen. Solche in friedlichen Zeiten, voll froh gestimmter Menschen auf dem Weg in die Ferien. Endlose Wagenreihen voll mit all jenen Dingen, die das Leben leichter und schöner machen. Das Geräusch eines solchen Zuges machte ihn glücklich. Allerdings, noch im hohen Alter, legte sich ein Ausdruck der Trauer auf sein Gesicht, wenn er an andere Züge dachte. An solche, deren schwer schnaufende Dampflokomotiven Wagen voller Soldaten und Kriegsmaterial zogen. An Züge, deren ferner Gruß aus der Dampfpfeife nicht fröhlich klang sondern wie der Wehgesang der Verlorenen. Oder solche, die nur aus zugenagelten Viehwaggons bestanden. Bewacht von finsteren Gestalten in bedrohlichen, schwarzen Uniformen. Züge die nicht jene Freiheit brachten, die Gustav stets in der Eisenbahn sah.

 

Jahre später sah er das letzte der Dampfrösser am Horizont verschwinden. Eine ferne Rauchwolke, die wie die Vergangenheit langsam verblaste. Eine neue Aufgabe tauchte in seiner kleinen Welt auf. Nicht nur das, was unten und links und rechts neben der Bahn war, musste er ansehen, sondern auch das, was an filigranen Masten hoch darüber schwebte. Jenen Draht, der nun das Land durchzog und ein neues Zeitalter ankündigte. Gustav begann sich alt zu fühlen, als man den Draht über seiner Eisenbahn spannte. Die Züge vor denen er jetzt zur Seite trat waren schneller als jene seiner Jugend. Leiser und eleganter, aber sie erschienen ihm auch auf eine seltsame Weise seelenlos zu sein.

 

Als der Schwellentritt-Gustav eines Tages, nach seinem letzten Kontrollgang, nach Hause kam, endete eine Ära. Die neue Generation von Bahnwärtern wohnte nicht mehr in den schmucken Häuschen direkt an der Strecke. Ihre Arbeit war die gleiche wie seine, und doch völlig anders. Kinder einer neuen Zeit, denen er aus seinem Häuschen schweigend hinterher sah. Denn - Gustav lies auch aus diesem Grund nie etwas auf die Eisenbahn kommen - er durfte den Rest seiner Tage in seinem Häuschen ausleben. Irgendwann begann dort seine letzte Reise, direkt neben seiner großen Liebe, der Eisenbahn.

 

In liebevoller Erinnerung an meinen Großonkel, den Schwellentritt-Gustav (1899 – 1996).

 

 Text: Markus Zinnecker, 2024

Samstag, 14. Dezember 2024

Der Prediger von Pennsylvania - Benjamin Lay und der Schutz der Umwelt im 18.-Jahrhundert -

 

Freitagspredigt in Burlington

Eine der spannendsten Personengruppen, die in der frühen Geschichte der nordamerikanischen Kolonien – also jener Gebiete, die später die Vereinigten Staaten von Amerika werden sollten - eine Rolle spielten, sind zweifellos die Quäker. Eine in der Mitte des 17.-Jahrhunderts in England entstandene, christliche Gruppierung. Tief religiöse Menschen, die in Nordamerika eine neue Heimat fanden und teils bedeutenden Einfluss erlangten. Um einen der Ihren soll es hier gehen.

Zu den Besonderheiten der Quäker zählt, dass sie keine Prediger im klassischen Sinne kennen. Trifft sich die Gemeinde, so sprechen die Mitglieder, die sich durch den Heiligen Geist dazu berufen sehen. Es kann also durchaus sein, dass in einer Quäkerversammlung nur ein einzelner Prediger auftritt oder gleich mehrere. So war es auch am Freitag, dem 19. September 1738, in Burlington, einer Stadt im heutigen US-Bundesstaat Vermont. Am Gottesdienst nahm ein kleinwüchsiger Mann teil, der einen weiten Mantel trug. Niemand wusste, dass dieser Mantel nicht nur seinen Körper verhüllte, sondern auch ein speziell präpariertes Buch und ein Schwert verbarg. Das Buch hatte er ausgehöhlt und darin einen Beutel verborgen, der mit rotem Fruchtsaft gefüllt war.

Als die Zeit dafür gekommen war, stand der Mann auf und ging nach vorne. Wer von den Gemeindemitgliedern mit einer freundlichen Predigt über göttliche Gnade und Nächstenliebe gerechnet hatte, wurde böse überrascht. Denn der Kleinwüchsige setzte zu einem wahren Strafgericht an. Der Prediger verkündete, dass Gott der Allmächtige alle Menschen gleich liebe. Egal ob reich oder arm, Frau oder Mann, weiß, schwarz oder von sonstiger Hautfarbe. Nichts davon zählte und so sei es eine fürchterliche Sünde, mit Sklaven zu handeln, selbst welche zu besitzen oder an Geschäften, bei denen Sklaven eine auch noch so geringe Rolle spielten, zu verdienen. Auch wenn der Prediger von körperlich kleiner Gestalt war, seine Worte waren von so großer Macht, dass niemand der Anwesenden wagte zu protestieren. Dies möchte verwundern, denn viele der Quäker von Burlington waren mit dem Transatlantikhandel und dem Sklavenhandel reich geworden. Viele besaßen selbst Sklaven oder waren an Plantagen beteiligt, auf denen Sklaven arbeiten mussten. Der Prediger fuhr fort, den Anwesenden ihre Sündigkeit vorzuhalten. Dann hielt er kurz inne und warf den Mantel von sich.

Erst als Schwert und Buch sichtbar wurden, erfüllte Gemurmel den Raum. Vielleicht waren einzelne Personen sogar aufgestanden, doch all das nützte nichts. Der Kleinwüchsige rief mit lauter Stimme: „So soll Gott das Blut derer vergießen, die ihre Mitgeschöpfe versklaven.“ Mit diesen Worten hob er das Buch hoch über seinen Kopf und stieß mit der anderen Hand das Schwert zwischen die Seiten. Der Fruchtsaft, den alle Anwesenden für Blut halten mussten, spritzte über den Mann und verteilte sich im Raum. Gleichzeitig verkündete der Prediger, der zum Propheten des Unheils geworden war, eine dunkle Zukunft für all diejenigen, die sich an den Sklaven bereichert hatten.

Einige Sekunden später versank die Versammlung der Quäker im Chaos. Der Prophet, der dies völlig still und ohne die geringste Gegenwehr über sich ergehen ließ, wurde von der aufgebrachten Gemeinde ergriffen und vor das Gotteshaus geschleift.


 

Wer war der Prediger?

Der Mann, der nach seinem spektakulären Auftritt in Burlington aus der Quäkerversammlung geworfen wurde, hieß Benjamin Lay. Eine – nicht nur für seine Zeit – höchst bemerkenswerte Persönlichkeit, die leider der Allgemeinheit heute nahezu unbekannt ist.

Geboren am 26. Januar 1682 in der englischen Grafschaft Essex, war seine Biografie eine der typischen Auswanderergeschichten jener Zeit. Aufgrund seiner Behinderung (legt man zeitgenössische Personenbeschreibungen zu Grunde, so ist davon auszugehen, dass Lay an einer Kombination aus Kleinwuchs und der Scheuermann-Krankheit litt), standen ihm nur wenige Berufswege offen. Er ging darum zur See und arbeitete auf verschiedenen Handelsschiffen, bis er 1718 in die damalige britische Kolonie Barbados kam. Deren Wirtschaft beruhte nahezu vollständig auf der Ausbeutung von Sklaven als Plantagenarbeitern. Als Handelsagent erlebte er dort hautnah, welch grausamer und menschenverachtender Behandlung die Sklaven ausgesetzt waren. Seine Überzeugung als radikaler Sklavereigegner fand hier ihren Ursprung.

Lay, der sich in späteren Jahren als Landwirt in der Kolonie Pennsylvania niederließ, beschränkte seine Überlegungen jedoch nicht nur auf menschliche Sklaven. In seiner Überzeugung waren alle Geschöpfe gleichwertig, weshalb er nicht nur die Sklaverei ablehnte und persönlich keinerlei Produkte verwendete, die damit in Zusammenhang standen, sondern auch als Vegetarier lebte.

Er war davon überzeugt, dass ein stilles, ländliches Leben im Einklang mit der Natur anzustreben sei. Diesen Lebensstil hielt er am ehesten dafür geeignet, die seiner Überzeugung nach in allen Lebewesen vorhandene heilige Präsenz Gottes zu würdigen. Demzufolge sei jedes Leben heilig und schützenswert. Neben Sklaverei seien also auch der Konsum von Fleisch, die Todesstrafe und alle anderen Handlungen verdammungswürdig, die das Leben der Mitgeschöpfe entwerten.

 

1735 verstarb Lays Frau. Von da an zog er durch die Lande und predigte in teils spektakulärer Form seine Überzeugungen in den Gemeinden der Quäker. Die letzten Jahre seines Lebens verbrachte er in einer zur Wohnung umgebauten Höhle, die neben den nötigen Utensilien, um weitgehend unabhängig zu überleben, auch seine umfangreiche Bibliothek mit Büchern über Theologie, Philosophie, Biografien, Geschichte und Lyrik enthielt. Benjamin Lay verstarb am 08. Februar 1759.

 

Nachwirkung

Benjamin Lay war in vielerlei Hinsicht eine bemerkenswerte Persönlichkeit. Nicht nur, weil es zu seiner Zeit – und leider ja auch noch lange Zeit danach – sehr ungewöhnlich war, dass Menschen mit Behinderung öffentlich in Erscheinung traten. Zumindest über niveaulose und oft menschenverachtende Zurschaustellung in sogenannten „Freakshows“ hinaus. Lay kann im Rückblick als einer der Wegbereiter des Abolitionismus in den USA gelten. Er war einer der ersten weiter veröffentlichten und gelesenen Autoren zu diesem Thema. Insbesondere sein bereits 1737 veröffentlichtes und später im Verlag von Benjamin Franklin erschienenes Buch All Slave-Keepers That Keep the Innocent in Bondage: Apostates kann als eine Art Samen der Anti-Sklaverei-Bewegung in Nordamerika gelten. Darüber hinaus war er auch einer der ersten, öffentlich von einem größeren Publikum wahrgenommenen Aktivisten für Vegetarismus und Tierrechte.

Nach Lays Lehren war nicht nur das Töten von Tieren zur Gewinnung von Nahrungsmitteln eine Sünde gegen die Heiligkeit des Lebens, sondern auch die Ausbeutung von Tieren zu wirtschaftlichen Zwecken. Darum lehnte er Kleidung aus Wolle ab und trug stattdessen aus Flachsfaser hergestellte Kleidung.

Auch wenn die endgültige Auflösung der Sklaverei in den USA – einem Staat, der zu Lebzeiten Lays noch nicht einmal existierte – erst über ein Jahrhundert nach Lays Tod erfolgte, so kann ihm doch ein nicht geringer Anteil an diesem Erfolg zugeschrieben werden. Denn viele der späteren Abolitionisten wurden durch ihn inspiriert. International ist das Problem der Sklaverei leider bis heute nicht gelöst. Gleiches gilt auch für die vor dem Hintergrund der Klimakrise immer wichtiger werdende Diskussion um neue Arten der Nahrungssicherung und des Naturschutzes. Denn dies bedingt auch, dass wir, genau wie es Benjamin Lay damals tat, immer wieder neu über unseren Umgang mit der Umwelt nachdenken sollten

Weblinks / Quellen / Urheberrecht:

 

https://www.smithsonianmag.com/history/quaker-comet-greatest-abolitionist-never-heard-180964401/

https://getpocket.com/explore/item/the-18th-century-quaker-dwarf-who-challenged-slavery-meat-eating-and-racism

https://ota.bodleian.ox.ac.uk/repository/xmlui/bitstream/handle/20.500.12024/N03401/N03401.html

https://en.wikipedia.org/wiki/Benjamin_Lay

https://de.wikipedia.org/wiki/Scheuermann-Krankheit

 

Text: © Markus Zinnecker, 2024