Eine andere Welt
Schließen Sie für einen Moment die Augen und stellen Sie sich eine Welt vor, die völlig anders ist als jene Welt, in der Sie sich gerade ganz real aufhalten. Alles, die Art, wie die Gesellschaft organisiert ist, die vorhandene Technik, ja sogar die elementarsten Maßeinheiten der Wissenschaft, nichts ist so, wie Sie es gewohnt sind.
Diese Welt, in die unsere kleine Zeitreise führt, ist das vorrevolutionäre Frankreich. Ludwig XV. herrscht als absoluter Monarch über das Land. Im Rückblick der Geschichte mögen sich zwar schon die ersten Anzeichen der bevorstehenden Revolution abzeichnen, doch für die meisten Menschen des Jahres 1769 ist die Welt so wie sie schon immer war und vermutlich noch für lange Zeit bleiben wird. Dabei wird an einem geheimen Ort - wohlbehütet von den Soldaten des Ancien Régime - eine Revolution vorbereitet, die in ihren Auswirkungen die politischen und gesellschaftlichen Umbrüche, die Frankreich in wenigen Jahren erschüttern werden, noch in ihren Schatten stellt. Um diese Revolution soll es hier gehen, doch um diese Geschichte zu erzählen, müssen wir noch einmal einige Jahre weiter in die Vergangenheit zurückspringen.
Genese einer Idee
Im Jahr 1764 erhielt ein Offizier der französischen Artillerie den Befehl, sich bei seinem Vorgesetzten zu melden. Der Mann, dessen Name Nicholas Joseph Cugnot war, wird wohl nur eine routinemäßige Besprechung erwartet haben, als er das Staabsgebäude betrat. Er sollte sich damit gewaltig geirrt haben. Denn General Jean-Baptiste Vaquette de Gribeauval erteilte ihm einen Auftrag, mit dem er nicht gerechnet haben dürfte. Er sollte unter strengster Geheimhaltung einen dampfbetriebenen, mechanischen Transportwagen für schwere Artilleriegeschütze entwickeln. Insbesondere, um Belagerungsgeschütze zu bewegen. Denn die französische Armee hatte erfahren, dass in der Schweiz entsprechende Experimente angestellt wurden. Zu jenem Zeitpunkt zwar noch ohne Erfolg, aber die Sache war natürlich trotzdem interessant.
Cugnot war nun ausgewählt worden, den Schweizern zuvorzukommen. Grund für diese Wahl war hauptsächlich, dass Cugnot bereits Jahre zuvor durch Entwicklungsarbeiten an einem neuen Gewehrtyp aufgefallen war und zudem bereits offen über die Idee gesprochen hatte, eine der immer populärer werdenden Dampfmaschinen in einen Wagen zu bauen und dieses Fahrzeug für militärische Zwecke einzusetzen.
In den folgenden Jahren arbeitete Cugnot konzentriert an der Entwicklung einer derartigen Maschine. Nach mehreren Funktionsmodellen wurde im Jahr 1769 ein Prototyp in Paris präsentiert und am 22. April des Folgejahres zum ersten Mal auf einer längeren Strecke gefahren. Die knapp 10 Kilometer lange Strecke vom Arsenal in Paris zum Schloss von Vincennes konnte mit dem Fardier à Vapeur (franz. für Dampfkarren) in etwa drei Stunden zurückgelegt werden.
Nachwirkung
Es ist wieder der moderne Blick in den Rückspiegel der Geschichte, der heute den Schluss zulässt, dass diese Demonstrationsfahrt den Beginn einer Revolution hätte bedeuten können. Doch es kam nicht dazu. Politische Umstände und wohl auch Unverständnis der Verantwortlichen führten dazu, dass die Armee das Projekt fallen ließ. Der Fardier wurde im Arsenal eingelagert und Cugnot zum Dank mit einer Pension bedacht.
Cugnot floh 1789 vor der Französischen Revolution nach Brüssel, bis ihn Napoleon Bonaparte einlud, nach Paris zurückzukehren. Dort verstarb er im Jahre 1804 im Alter von 79 Jahren.
Ungeklärt bleibt, ob Cugnot jemals das Musée des Arts et Métiers besucht hat. Im Museum des Instituts für Kunst und Wissenschaft ist der Fardier seit dem Jahr 1800 ausgestellt. Bis heute kann er dort besichtigt werden, und es existiert weltweit eine Reihe von funktionsfähigen Nachbauten. Das Originalfahrzeug im Museum wurde zur Inspirationsquelle für zahlreiche andere Erfinder. Unter anderem auch für den jungen Étienne Lenoir, der zu einem der Väter der Automobilentwicklung werden sollte.
Eine unbeweisbare und höchstwahrscheinlich unwahre Legende ist hingegen, dass Cugnot bei der Demonstrationsfahrt im Jahr 1770 gegen die Stadtmauer von Paris gefahren sei und darum nicht nur das Automobil an sich, sondern auch den Autounfall erfunden habe. Es existieren keine zeitgenössischen Quellen für diese Geschichte, darum ist anzunehmen, dass sie später erfunden wurde.
Was bleibt ist die Geschichte einer faszinierenden Erfindung, die ihrer Zeit in vieler Hinsicht voraus war. Eine Idee, die vor zweieinhalb Jahrhunderten geboren wurde und die Menschheit bis heute nicht losgelassen hat. Eine Idee, der man wohl getrost unterstellen kann, dass sie weltbewegend gewesen sei: Die Idee des Automobils. Der aus sich selbst heraus bewegten Maschine.
Weblinks / Urheberrecht
https://www.traumautoarchiv.de/html/1356.html
https://de.wikipedia.org/wiki/Nicholas_Cugnot
https://lefardierdecugnot.fr/inventeur
https://www.youtube.com/watch?v=UMadF_YkQEg
© Text: Markus Zinnecker, 2024
Bild: Schnittzeichnung des Fardier, gemeinfreies Werk
https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Nicholas_Cugnots_Dampfwagen.jpg