Vor einigen Tagen habe ich ein Kind beim Spielen beobachtet. Ein Mädchen, vielleicht vier oder fünf Jahre alt. Sie saß neben ihrer Mutter im Café und beschäftigte sich mit ein paar Plastik-Dinosauriern. Ein dunkelgrüner T-Rex und ein neonoranger Stegosaurier. Zwei Kreaturen, deren reale Inkarnationen vor uralter Zeit über diesen Planeten wanderten – und die höchstwahrscheinlich nicht dunkelgrün und garantiert nicht neonorange waren. Aber darum geht es nicht. Mir hat dieser kurze Anblick des spielenden Kindes nämlich einen Gedanken eingegeben, um den es hier gehen soll. Es geht um die sogenannte tiefe Zeit. Also Zeiträume, die für einen Menschen kaum verständlich und gar nicht zu überblicken sind.
Perspektive der Zeit
Das Universum in seiner Gesamtheit ist ungefähr 14 Milliarden Jahre alt, unser Sonnensystem kommt auf gerade mal etwa 4,5 Milliarden Jahre. Das alleine sind Zeiträume, die nicht zu fassen sind. Doch noch etwas ist bemerkenswert: Die realen Vorbilder der Spielzeugdinos sind, aus unserer Sicht, auch Wesen der tiefen Zeit. Stegosaurus stenops – das ist das Vieh mit den Dachziegeln auf dem Rücken und dem Morgenstern am Schwanzende – existierte vor etwa 150 Millionen Jahren. Tyrannosaurus rex - der bekanntlich als gruseliges Monster in den Filmen des Herrn Spielberg zu Weltruhm kam - latschte vor knapp 70 Millionen Jahren über diesen Planeten. Er gehörte zu den glücklosen Kreaturen der Kreidezeit, jenem Erdzeitalter, das mit dem berühmten Meteoriteneinschlag, der die Dinosaurier ausrottete, endete. Eine simple Rechnung zeigt nun, dass zwischen Stegosaurier und T-Rex etwa 80 Millionen Jahre liegen. Das sind gewaltige 10 Millionen Jahre mehr als zwischen unsererZeit und jenem Unglückstag, an dem der Meteorit einschlug. Die Begegnung am Cafétisch ist also nicht nur in ihrer Farbwahl höchst unrealistisch.
Aber auch die 70 Millionen Jahre zwischen T-Rex und uns sind ja nun kein Pappenstiel. Sie sahen so gewaltige Veränderungen, dass wir den Planeten Erde von damals kaum wiedererkennen würden. Denn seien wir mal ehrlich: Vor dem Hintergrund dieser Zeitskalen ist die Menschheit eine einzige Krabbelgruppe.
Vor einigen Jahren grub man in Sambia ein uraltes, bearbeitetes Stück Holz aus. Reste einer nicht mehr genau zu erkennenden Struktur aus uralter Zeit. Grobe 500.000 Jahre war es, durch ungewöhnlich gute Bedingungen erhalten geblieben und damit der älteste Beleg für Holzbearbeitung, den wir bisher kennen. Eine halbe Million Jahre klingt nach den bisher aufgeführten Zeiträumen wie etwas, das gerade einmal vorgestern war. Doch auch hier sollte man sich nicht täuschen lassen. Wer auch immer damals die Hölzer bearbeitet hat, war kein Mensch wie Sie und ich. Es war jemand, der einer anderen, heute ausgestorbenen Menschenspezies angehörte. Homo sapiens, also uns, gibt es erst seit gut 300.000 Jahren. Da waren die Holzbrocken in Sambia schon gute 200.000 Jahre alt. Das ist sehr alt. Um Größenordnungen älter als all jene gewaltigen Kulturleistungen unserer eigenen Geschichte, die wir heute so gerne bestaunen. Vergessen Sie die Pyramiden, Jericho oder die Höhlenmalereien von Leang Karampuang in Indonesien. Letztere sind grob 50.000 Jahre alt, also quasi neu.
Grob kann man das Zeitalter des modernen Menschen, also jene letzten 300.000 Jahre, in zwei Abschnitte einteilen: In die prähistorische Zeit, aus der wir außer einiger Fundstücke nichts haben und in die geschichtliche Zeit, also die Zeitspanne, aus der wir Schriftzeugnisse besitzen. Diese ist im Vergleich erschreckend kurz.
In der chinesischen Provinz Henan wurden einige Schildkrötenpanzer gefunden, die etwa achteinhalb Jahrtausende alt sind und auf denen sich Markierungen befinden, die vielleicht Schriftzeichen sein könnten. Diese Jiahu-Schrift genannten Zeichen sind möglicherweise die ältesten schriftlichen Zeugnisse der Menschheit. Was sie bedeuten, weiß jedoch niemand mehr, vermutlich standen sie im Zusammenhang mit Kulthandlungen. Die ältesten für uns heute noch verständlichen Schriftdokumente stammen von den Sumerern und sind etwa fünftausend Jahre alt. Die meisten dieser Dokumente betreffen den Handel und die Verwaltung, doch sind uns von den Sumerern auch kulturelle Texte überliefert worden.
Das bekannteste Werk dieser frühen Zeit dürfte das Gilgamesch-Epos sein. Die Geschichte des Königs von Uruk, der sich auf die Suche nach dem Quell der Unsterblichkeit macht. Ein Stoff, der in seiner Botschaft bis heute fesselt. Nicht nur als Zeugnis einer für uns unvorstellbar weit zurückliegenden Epoche. So unvorstellbar weit die Zeit des unbekannten Verfassers dieses Epos zurückliegt, so unvorstellbar wäre es für diesen Menschen – über den wir absolut nichts wissen -, dass sein Werk noch immer in den Buchhandlungen dieser Welt und natürlich auch im Internet zu finden ist.
Die Zeit eilt
Lassen Sie uns noch einen Zeitsprung machen: aus der Zeit der Sumerer, einige Jahrtausende in die Zukunft. Vorbei an den Großreichen der Ägypter und Alexanders, an Aufstieg und Fall Roms, an den Zeitaltern der mittelamerikanischen Hochkulturen und dem Zeitalter der Entdecker und Kolonialherren. Hinein in eine Zeit, die uns deutlich vertrauter erscheint: in das frühe 20.-Jahrhundert.
Stellen Sie sich eine Straße in einer Großstadt vor. Irgendwo in Europa oder Nordamerika. Das Jahr ist 1922 und die „Goldenen Zwanziger“ sind voll im Gange. Sie stehen vor einem Kino und betrachten die große Leuchttafel über dem Eingang. Ein Name, der mit einer ziemlich großen Wahrscheinlichkeit dort steht, ist Charlie Chaplin. Der 1889 in London geborene Schauspieler, Regisseur und Filmproduzent war einer der ersten echten Weltstars im modernen Sinne. Er gehörte zu den prägendsten Figuren der frühen Filmindustrie, und sein Werk wirkt zweifellos bis heute nach. Gleichzeitig steht er aus heutiger Sicht aber auch für eine archaische Art des Films. Für den Spielfilm im klassischen Sinne, der noch sehr deutlich in der jahrhundertealten Tradition des Theaters steht. Der moderne, durch technische Effekte mitbestimmte Film, der nicht nur von schauspielerischer Leistung und kunstvoller Inszenierung lebt, sondern auch von den technischen Finessen der Spezialeffekte, die zur Hochzeit Chaplins noch im Entstehen begriffen waren. Darum ist es für viele erstaunlich, doch Chaplin, der dem klassischen Film in seiner Frühzeit entstammte und im Dezember 1977 verstarb, lang genug lebte, um den ersten der Star-Wars-Filme gesehen zu haben. Einen Film, der zu seiner Zeit bahnbrechend war und den Weg in eine neue Epoche der Filmkunst ebnete.
Wie kurz ist ein Menschenleben? Wie schnell verändert sich die Welt? Charlie Chaplin, der hier nochmal als Musterexemplar herhalten soll, wurde 88 Jahre alt. In dieser Zeit erlebte er zwei Weltkriege, den Untergang des britischen Weltreiches sowie den Aufstieg des Kommunismus in der Sowjetunion und China, um nur einige der weltverändernden Dinge zu nennen, die sich während seiner Lebenszeit abspielten. Die Welt, in der er verstarb, war eine völlig andere, als die, in die er hineingeboren wurde. Ein Schicksal, das keinesfalls einzigartig ist, sondern eher den Normalzustand des Menschseins darstellt. Er war einfach nur ein besonders berühmter Protagonist. Ob sein Ruhm jedoch Jahrtausende überdauern wird, so wie der des Königs Gilgamesch, das kann nur die Zeit zeigen.
Was hier präsentiert ist, sind Tatsachen, Fakten, die sich in jedem besseren Lexikon – im Internet sowieso – ohne große Mühen recherchieren lassen. Insofern sollte es also niemanden überraschen, dennoch lösen solche Dinge oft Staunen aus.
Vor dem Hintergrund all dieser Fakten können sich aber auch Fragen eröffnen: „Wohin geht es mit uns?“ „Was wird die Zukunft bringen?“ Es sind Fragen, die nicht beantwortbar sind. Denn so wenig wie sich ein Stegosaurier einen T-Rex hätte vorstellen können, oder die alten Sumerer eine Vorstellung von Kinospezialeffekten hatten, so wenig können wir uns eine ferne Zukunft vorstellen. Wir können spekulieren und unsere Fantasie einsetzen. Dabei kann es vorkommen, dass wir uns die Zukunft bauen, die wir uns wünschen.
Lassen Sie uns für einen Moment in die Filmwelt zurückkehren: in die späten 1960er-Jahre und in ein Filmstudio in Kalifornien. Eine Kollegin Chaplins spielt dort gerade eine der ikonischsten Rollen der Filmgeschichte. Der Name der Schauspielerin war Nichelle Nichols und die von ihr verkörperte Figur die der Nyota Uhura, Kommunikationsoffizier auf dem Raumschiff Enterprise. Damals, als ein solches Gerät noch reine Fantasie war, verwendete sie einen kleinen Kopfhörer, der an einem ihrer Ohren befestigt war. Ein kleines – zu jener Zeit aber rein fiktives – Wunder der Technik, über das sich noch die seltsamsten Aliens kontaktieren ließen. Dieses Gerät hat, wie viele andere fantastische Erfindungen in Science-Fiction-Filmen und Büchern, eine Entwicklung in der realen Welt inspiziert. Heute kann jeder Handybenutzer einen solchen Kopfhörer verwenden, Kaufhäuser, Elektroläden und sogar Tankstellen und Discounter bieten diese Dinger für ein paar Euro an. Ein kleines Stück Zukunft für wenig Geld. Die Software mancher moderner Handys ist auch schon in der Lage, Sprache simultan und voll automatisch zu übersetzen, falls man mit jemandem sprechen möchte, den man nicht versteht. Nur das Warpschiff um die Aliens zu besuchen, das fehlt uns noch.
Vermächtnis der Zeit
Wir können in die Vergangenheit zurückblicken, doch die Zeit kennt nur eine Richtung. Unerbittlich, gnadenlos und ohne jedes Zögern nach vorwärts in eine Zukunft, in die wir nicht sehen können. Welche unserer heutigen Fantasien werden einmal Realität werden? Wir wissen es nicht.
Der Blick zurück eröffnet aber auch eine Frage für die Zukunft. Was wird einmal bleiben? Was wird von uns noch übrig sein, welche Spuren hinterlassen wir in einer fernen Zukunft. Die Astronomie ist auch eine Wissenschaft der Zeitreise, denn der Blick in die Tiefen des Alls ist auch ein Blick in die Zeit. Denn das Licht, das heute die Instrumente dieser Wissenschaft erreicht, ist bisweilen uralt. Ein Bote aus der Zeit, als die ersten schwachen Lichtstrahlen der ersten Sterne einen finsteren jungen Kosmos erhellten. In mancher Hinsicht wissen wir darum mehr über die frühen Anfänge des Universums als über die, in Relation, noch junge Geschichte unseres eigenen Planeten. Die Fossilien von Dinosauriern und anderen – teils noch älteren – Kreaturen, von denen am Anfang die Rede war, stellen einen winzigen Ausschnitt aus dem großen Buch der Erdgeschichte dar. Wir wissen nicht viel über jene lang zurückliegende Epoche unserer Welt. Es bleibt viel Raum für Spekulationen.
Wäre es nicht möglich, dass sich aus einer Art Dinosaurier eine intelligente Spezies entwickelt hat? So wie wir von primitiven Säugetieren abstammen? Zeit genug wäre dafür gewesen. Zeit für den Aufstieg und Untergang einer mächtigen Zivilisation mit all ihren technologischen und kulturellen Errungenschaften. Was wäre nach all den Millionen von Jahren davon übrig? Ein paar Spuren in Sedimentschichten und Gesteinsablagerungen. Winzige Spuren und vielleicht, mit extrem viel Glück, ein Fossil, das noch auf seine Entdeckung harrt. Möglich wäre es, doch es gibt keinen Beweis dafür. Nichts deutet auf die Existenz intelligenter Reptilien hin und selbst wenn es diese Zivilisation gegeben hat, es ist durchaus denkbar, dass die Zeit alle Spuren davon vom Angesicht der Welt getilgt hat.
Dies sind Gedanken, die überdeutlich vor Augen führen können, wie winzig und zerbrechlich unsere Zivilisation eigentlich ist. Soviel wir uns auch auf sie einbilden mögen, letztlich sind wir nichts weiter als verschwindend winzige Bewohner eines winzigen Staubkornes, das durch eine völlig unbedeutende Ecke des Universums driftet. Was wird einst von uns bleiben? Was wird das unausweichliche Ende unserer Welt überdauern? Welche Spuren werden wir zurücklassen?
Wenn von heute auf morgen sämtliche Menschen auf der Welt verschwinden würden, was wäre dann übrig? Wir selbst würden in kürzester Zeit zerfallen, vielleicht würden ein paar Exemplare als Fossilien erhalten werden, doch dies würde kaum auf mehr hindeuten, als auf eine ausgestorbene Spezies von hoch entwickelten Primaten. Der Unterschied zwischen uns und einem Schimpansen ist aus biologischer Sicht minimal. Einige wenige unserer technologischen Errungenschaften, insbesondere Bauwerke, würden vielleicht einige Jahrtausende überdauern, bevor sie von der unerbittlichen Erosion zermalmt wurden. Etwa genauso lange würde es dauern, bis auch noch das letzte Stückchen Weltraumschrott aus dem Orbit gestürzt und in der Erdatmosphäre verglüht wäre.
Einige hunderttausend Jahre würden vergehen, bis die tödlichsten der menschlichen Errungenschaften vergangen sind. Haufen von hochradioaktivem Material, das langsam, Partikel für Partikel, zerfällt. Ein makabres Grablicht auf dem Epitaph der Menschheit.
In etwa fünf Milliarden Jahren wird die Sonne ihre letzten Wasserstoffatome fusionieren. Ein unaufhaltsamer Prozess, der Übergang zur Heliumfusion, wird dazu führen, dass sich der freundliche kleine Stern in ein Monster verwandelt. Ein gewaltiger roter Riese wird sich aufblähen und die beiden innersten Planeten verschlingen. Merkur und Venus werden im nuklearen Feuer brennen und zermalmt werden, als hätten sie nie existiert. Erde und Mars werden sich sehr ähnlich werden. Dem Stern nahe, glutheiße, völlig leblose Planeten. Die innersten Leibwächter einer sterbenden Gottheit.
Der rote Riese wird nur kurz leben. Nach nur etwa zwei bis drei Milliarden Jahren wird er seine äußerste Hülle abstoßen und zu einem winzigen, nachglühenden, kümmerlichen Rest werden. Ein weißer Zwerg, der keine Fusion mehr erhalten kann, sondern nur noch langsam verglimmt. Erde und Mars werden dann nicht mehr existieren. Der Druck des Sternentodes wird sie zerfetzen. Vielleicht überleben die äußeren Gasplaneten. Jupiter, Saturn, Uranus und Neptun. Eisige Grabwächter, die langsam in der ewigen Finsternis versinken werden.
Mit ein wenig Glück wird es aber auch dann, in jener fernen Zukunft, noch Zeugen geben. Zwei winzige Inseln der Erinnerung, an die lange vergessenen Bewohner eines Sonnensystems, das dann nicht mehr existieren wird. An hoffnungsvolle Kinder des Universums, die zu den Sternen aufsahen und hofften, dass ihnen von dort freundliche Augen zuzwinkern würden.
Voyager 1 und Voyager 2, die Namen zweier Raumsonden, die in den 1970er Jahren gestartet wurden. Sonden, die etwa fünfzig Jahre lang Daten aus dem tiefen Weltall zur Erde zurücksandten und dann langsam ihre Funktion einstellten. Tote aber doch beredete Botschafter, auf dem Weg in die interstellare Leere. Doch das All kann auch gnädig sein, und wenn es das zu den beiden Reisenden ist, so werden sie bis in alle Ewigkeit durch die unendliche Finsternis fliegen. Vielleicht, nur ganz vielleicht, wird sie jemand finden. Irgendwann in einer sehr, sehr fernen Zukunft. Milliarden von Jahren von heute und unvorstellbar für uns und doch nur ein Wimpernschlag auf den Skalen der tiefen Zeit.
Quellen:
Hinweis: Die Zeitangaben in diesem Artikel sind stark gerundet und nicht absolut präzise.
https://dinodata.de/animals/dinosaurs/pages_s/stegosaurus.php
https://dinodata.de/animals/dinosaurs/pages_t/tyrannosaurus.php
https://www.spektrum.de/news/sambia-die-aelteste-holzstruktur-der-welt-ist-467-000-jahre-alt/2182800
https://humanorigins.si.edu/evidence/human-fossils/species/homo-sapiens
https://www.sci.news/archaeology/leang-karampuang-painting-13077.html
http://news.bbc.co.uk/2/hi/science/nature/2956925.stm
https://www.planet-wissen.de/natur/weltall/sonne/pwiewirddiesonneewigscheinen100.html
https://fis.uos.de/vivouos/display/wf1v4
https://www.fe-lexikon.info/lexikon/voyager
Urheberrecht:
Text: Markus Zinnecker, 2025