Ein dünner Streifen aus Licht am
Horizont. Das erste Licht des neuen Morgens. Noch ist es zu schwach, um die
Dunkelheit zwischen den Gebäuden zu durchdringen. Eine gelblich funzelnde Lampe
an einer der Wände ist das einzige Licht, das der jungen Frau auf ihrem Weg
leuchtet. Zielstrebig geht sie auf eine der Hallen zu und öffnet das Tor. Leise
quietschend gibt es den Blick ins Innere frei. Im Halbdunkel sind vage Umrisse
zu erkennen. Eine riesige Maschine wartet auf den Beginn der Arbeit.
Einige Schritte über die kurze
Leiter an der Seite, dann öffnet sie die Tür der Fahrerkabine und steigt ein.
Einen kurzen Moment hält sie inne. Denkt zurück an die letzten Tage. Tage der
Vorbereitung. Öl, Kühlwasser, Treibstoff, Schmierfett. Der Geruch liegt noch in
der Luft. Alles ist bereit für den großen Tag. Sie greift zum Schlüssel und
dreht ihn. Im Licht der aufflammenden Kontrolllampen wird ihr Lächeln sichtbar.
Lange Arbeitstage liegen vor ihr und doch freut sie sich auf die nächste Zeit.
Ein Knopfdruck, und der Motor erwacht dumpf grollend zu mechanischem Leben. Im
Takt der Kolben schlägt das Herz des Mähdreschers, den sie hinaus steuert.
Hinaus in Richtung der in vollem Korn stehenden Felder. Noch durchschneiden nur
die Lichtfinger der Scheinwerfer die Dunkelheit, bald werden die stählenden
Messer die goldenen Halme durchschneiden. Das kunstvolle Werk im Inneren der
Maschine wird das Korn aus den Ähren dreschen und das Stroh zerkleinern. Spreu
und Weizen werden sich trennen, im ursprünglichsten Sinne des Wortes. Goldene
Körner, der Lohn der Arbeit. Eines jener Wunder, die auf einem Bauernhof Tag
für Tag passieren, findet hier seine Vollendung.
Es ist noch gar nicht so lange
her, da rissen Pflug und Egge den Boden auf, bereiteten ihn vor für die neue
Saat. Eine Saat, die beinahe unsichtbar, verborgen vor den Augen der meisten
Menschen austrieb und aufging. Aus zartem Grün wurde tiefes Gold. Gold, das
mehr wert ist als der Inhalt der Tresorräume und Schatzkammern dieser Welt.
Die moderne Landwirtschaft mag
weit entfernt von jenen Tagen erscheinen, als zum ersten Mal ein Pflug den
Boden durchbrach. Als zum ersten Mal ein Mensch ganz bewusst eine Pflanze dort
wachsen ließ, wo es ihm besonders nützlich erschien. Zwölf Jahrtausende sind seit
jenem Tag vergangen und doch die Arbeit der jungen Frau unterscheidet sich in
ihrem tiefen Kern nicht groß von der, die damals die ersten Ackerbauern der
Jungsteinzeit verrichteten. Auch nicht von der die Landwirte heute auf der
ganzen Welt verrichten. Ob auf den Reisfeldern Asiens, den Maniokpflanzungen
Südamerikas oder den Feldern irgendeines anderen Teils dieser Welt. Es ist das
Wunder, das aus einem winzigen Samenkorn eine Pflanze wächst und Frucht trägt,
Nahrungsmittel und Energie liefert und somit das Leben, wie wir es kennen,
ermöglicht. Das Werkzeug mag sich unterscheiden, doch das Wunder bleibt gleich.
Ein Wunder, das die Biologie
heute erklären kann und doch nichts von seiner Magie verloren hat. Schon seit
ältester Zeit staunten die Menschen darüber und brachten eine gelungene Ernte
mit dem Wohlwollen höherer Mächte in Verbindung. Schon immer wurden nach der
Ernte Dankfeste gefeiert. Feste der Freude über die Ernte. Feste, die das Leben
an sich feiern.
Im Jahre 1620 landete eine Gruppe
von Auswandern aus England mit ihrem Schiff - der Mayflower – an der Küste
jener Gegend, die heute den US-Bundesstaat Massachusetts bildet. Es handelte
sich bei diesen Leuten um religiös verfolgte Flüchtlinge, die hier in der sogenannten
„Neuen Welt“ eine neue, vor Verfolgung sichere, Heimat suchten. Doch schien
dieses Unternehmen von einer dunklen Wolke überschattet zu werden.
Sie wollten in der neuen Heimat
Ackerbau betreiben, so wie sie es aus England kannten. Doch die mitgebrachten
Saaten wollten nicht wachsen. Der Boden hier war anders und es drohte die
Katastrophe. Ohne eine erfolgreiche Ernte würden sie den Winter nicht
überleben.
In jener Gegend lebten damals die
Ureinwohner vom Volk der Wampanoag. Diese sahen, dass die seltsamen Menschen,
die vor Kurzem zu ihnen gekommen waren, nicht zurechtkamen. Bisher waren die
Neuankömmlinge friedlich gewesen und so beschlossen sie, ihnen zu helfen.
Massasoit, der Häuptling der Wampanoag und einige seiner Leute brachten ihnen
Vorräte für den Winter und zeigten ihnen, welche einheimischen Pflanzen sich
zum Anbau eigneten. Dank dieser Hilfe konnten die Siedler überleben und
feierten zusammen mit den Ureinwohnern ein Dankesfest. In den Vereinigten
Staaten wird Thanksgiving bis heute
jedes Jahr im November gefeiert. Doch leider hatte man bald schon vergessen,
was man den indigenen Menschen zu verdanken hatte. Dankbarkeit ist oft nicht
von Dauer.
Dabei scheint es, als würde die
Geschichte der Pilgerväter und der Wampanoag, sich vielerorts wiederholen. Wie
oft vergessen wir die Dankbarkeit für das, was im Leben wirklich wichtig ist?
Wie oft denken wir daran, dass Brot und Nudeln, Kartoffeln und Salat, Schnitzel
und Käse, Bananen und Schokolade, das all diese Dinge nicht von selbst in den
Supermarkt gekommen sind. Das ihre Reise immer irgendwo begonnen hat. Auf einem
Feld, einer Plantage, in einem Stall oder auf einer Weide. Das irgendwo jemand
zur Harke oder Sichel gegriffen hat oder jemand einen Mähdrescher gestartet
hat. Denken wir an all die Hände, durch die es ging? Vom Feld in die Mühle, auf
ein Schiff oder die Eisenbahn. Zu einer Fabrik, einer Bäckerei oder an einen
anderen Ort. Die Kette ist fast endlos lang und doch oft unsichtbar.
Massasoit der Wampanoag-Häuptling
ist nur einer von vielen. Einer von den zahllosen Erntehelfern unseres Lebens. Nicht
jede Ernte lässt sich abmähen, ausdreschen und verladen. Manche hat keine
körperliche Gestalt. Erntedank kann manch einer auch über seinem eigenen Leben
feiern. Für all die großen und kleinen Erträge, die wirklich zählen. Kinder und
Freunde, geliebte Menschen und Erinnerungen an die wahrhaft guten Tage des
Lebens.
Dankbarkeit sollte ihren Platz
nicht in den Geschichtsbüchern finden. In den Herzen und im Alltag der Menschen
ist sie viel besser aufgehoben. Nicht nur an einem einzigen Tag im Jahr.
Text: Markus Zinnecker, 2023
Bild: Lichtsammler
via Pixabay
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