Es war furchtbar. Der letzte
Streit mit seinen Eltern hatte Étienne schwer belastet. Die Folge davon war
eine schlaflose Nacht, die er nicht zu Hause verbracht hatte. Das kleine Haus
in der Mitte des Dorfs erschien ihm grauenhaft eng. Sein Vater hatte gebrüllt
wie ein Irrer und die Mutter war nur dagesessen und hatte den Kopf geschüttelt.
Sie verstanden einfach nicht, dass er unbedingt Schmied werden wollte. Nicht
Bauer, wie sein Vater und dessen Vater und der Vater des Vaters und so weiter.
Wie es schon immer gewesen war, seit Anbeginn aller Zeiten.
In aller Früh, noch vor
Sonnenaufgang, schlich er sich zurück in sein Elternhaus. Raffte die nötigsten
seiner Sachen zusammen und wickelte sie in ein Tuch, dass er sich über die
Schulter warf. Dann verließ er das Haus zum letzten Mal in seinem Leben. Es war
noch niemand wach, als er das Dorf verließ, ein letztes Mal zurückblickte und
dann beschloss, seine Schuhe auszuziehen und wegzuwerfen. Er wollte kein
Krümelchen Erde von diesem Ort mitnehmen, denn hier verstand ihn niemand und er
war mit diesem Ort fertig. Nur der alte Knecht des Großbauern beobachtete die
Szene, später ging er hin, hob die Schuhe auf und brauchte sie zu Étienne
Mutter. Die verstand schweigend, dass sie ihren Sohn verloren hatte und ging
weinend ins Haus.
Étienne wanderte da schon guten
Mutes durch die Lande. Er wusste, dass er unterwegs immer genug Arbeit finden
würde, die Bauern brauchten immer Hilfe. So würde er es schaffen und sein
Traumziel erreichen. Paris, die Stadt, in der alles möglich war. Dort würde er
so leben können, wie er es sich wünschte.
Zumindest der erste Teil des
Plans funktionierte und so erreichte der junge Mann gut einen Monat später Paris.
Doch die Großstadt war schon damals kein einfacher Ort für einen jungen
Menschen, der ohne jede Unterstützung seinen Weg finden musste. Eine Lehrstelle
als Schmied war hier nicht zu bekommen, denn einen mittellosen Unbekannten
wollte niemand einstellen. Doch Arbeitskräfte in anderen Bereichen waren knapp
und so fand sich doch noch eine Stelle. Als Hilfsarbeiter in einer Werkstatt
die Emaille verarbeitete. Ein Notbehelf, der sich als unglaublicher Glücksgriff
entpuppen sollte.
Weißes Emaille war damals knapp
und schwer zu bekommen, für viele Produkte aber sehr gefragt. Étienne befasste
sich darum mit dem Problem, wie man mittels Bleioxid reinweißes Emaille
herstellen konnte. Er erfand innerhalb kürzester Zeit ein völlig neues
Verfahren, für das er bald sogar ein Patent erhielt. Außerdem verschaffte ihm
die Arbeit in der Emaillewarenfabrik die Bekanntschaft des damals sehr
bekannten Goldschmiedes Charles Christofle. Dieser stellte ihn als Techniker
ein und ermöglichte ihm die Arbeit an neuartigen Verfahren zur elektrolytischen
Versilberung und Verkupferung von Schmuckgegenständen.
Étienne Interesse an Technik
wurde in der Goldschmiede in besonderem Maße gefördert und weiter geweckt. In
seiner Freizeit arbeitete er darum an immer weiteren Erfindungen. Elektrische
Signale für die Eisenbahn, eine mechanische Teigknetmaschine und Geräte zur
Erfassung von Wasserdurchlauf in Leitungen gehörten zu den Erfindungen, für die
er Patente erhielt. Patente, die das Interesse der Industrie weckten und dem
vor wenigen Jahren als mittellosem Landstreicher in die Stadt gekommenen Mann
einen bescheidenen, aber deutlich sichtbaren Wohlstand verschafften.
Eines Tages besuchte Étienne an
einem ruhigen Tag das Museum der Ingenieurschule von Paris. Dort wurden – und
werden bis heute - bedeutende französische Erfindungen der Vergangenheit
ausgestellt. Darunter befindet sich auch der Dampfwagen von Nicholas Cugnot von
1769, der als erste sich selbst antreibende Maschine der Geschichte gilt. Étienne
war fasziniert und begann davon zu träumen, das Konzept des damals
gescheiterten Versuchs zu einem brauchbaren Fahrzeug zu entwickeln. Ihm war
klar geworden, dass sich eine Dampfmaschine für den Antrieb eines Fahrzeugs nur
sehr bedingt eignete. Bei der Eisenbahn funktionierte es gut einfach weil das
Gewicht und die Größe einer Lokomotive nur von untergeordneter Bedeutung waren.
Ganz im Gegenteil, eine schwere Lokomotive war sogar besser, weil sie größere
Zugleistung erbringen konnte. Aber auf Straßen musste ein Fahrzeug möglichst
leicht sein, um gut zu funktionieren. Doch wie sollte er das bewerkstelligen?
Eine Vielzahl von Versuchen
folgte der Idee. Das gerade erworbene Vermögen wäre dabei fast aufgebraucht
worden. Doch im Jahr 1858 gelang es endlich einen funktionierenden Motor zu
bauen. Noch war dieser zu groß, um in ein Fahrzeug eingebaut zu werden, aber er
war auch deutlich kleiner und leichter als eine Dampfmaschine von
vergleichbarer Leistung. Nicht mehr Dampfdruck wirkte auf den Kolben, sondern
der Druck einer kleinen Explosion. Gas wurde in die Brennkammer geleitet,
entzündet und durch die dabei entstehende Druckwelle der Kolben bewegt. Das
Prinzip der inneren Verbrennung, das bald die Welt erobern sollte.
Doch einem ruhelosen Geist wie
dem Étiennes genügt ein solcher Teilerfolg natürlich nicht. Nachdem Patente auf
den neuen Motor ihm ein sicheres Einkommen garantierten, begann er wieder mit
der Arbeit. Das Ergebnis war eine kleinere und leichtere Version des Motors
sowie ein Verfahren, mit dem durch Elektrolyse Wasserstoffgas aus Wasser
gewonnen werden konnte. Das komplette System war somit unabhängig von einer
stationären Gasleitung und konnte in ein Fahrzeug eingebaut werden. Im Sommer 1860
unternahm Étienne die erste Probefahrt mit einem kruden, einer dreirädrigen
Kutsche nachempfundenen Gerät, das er Hippomobile
getauft hatte. Was er und seine Zeitgenossen, die ihn damals für einen
gefährlichen Irren hielten, nicht ahnen konnte, war, dass andere Ingenieure von
seiner Arbeit hörten und davon fasziniert waren. Einige Jahre später sollten
sie in seine Fußstapfen treten und eine der größten technologischen
Revolutionen der Menschheitsgeschichte auslösen.
Als Étienne Lenoir am 4. August
1900 im französischen Städtchen Saint-Maur-des-Fossés verstarb, da hatte die
Automobilisierung der Welt schon Fahrt aufgenommen. Wir stehen heute wieder an
der Schwelle zu einem neuen Zeitalter. Wie wird man sich wohl in Zukunft an die
Lenoirs unserer Tage erinnern?
Jean-Joseph Étienne Lenoir
wurde am 12. Januar 1822 im belgischen Mussy-la-Ville als drittes von acht Kindern geboren. Schon
als Kind galt er als schwieriger, aber neugieriger und hoch intelligenter
Junge. Mit 16 verließ er seine Heimat und wanderte nach Paris, wo er auf
Umwegen zu einem der bedeutendsten Erfinder des mittleren 19.- Jahrhunderts
wurde. Das Hippomobile von 1860 inspirierte auch Carl Benz, Gottlieb Daimler
und Wilhelm Maybach sowie viele andere Autopioniere zu ihren Arbeiten.