Freitagspredigt in Burlington
Eine der spannendsten Personengruppen, die in der frühen Geschichte der nordamerikanischen Kolonien – also jener Gebiete, die später die Vereinigten Staaten von Amerika werden sollten - eine Rolle spielten, sind zweifellos die Quäker. Eine in der Mitte des 17.-Jahrhunderts in England entstandene, christliche Gruppierung. Tief religiöse Menschen, die in Nordamerika eine neue Heimat fanden und teils bedeutenden Einfluss erlangten. Um einen der Ihren soll es hier gehen.
Zu den Besonderheiten der Quäker zählt, dass sie keine Prediger im klassischen Sinne kennen. Trifft sich die Gemeinde, so sprechen die Mitglieder, die sich durch den Heiligen Geist dazu berufen sehen. Es kann also durchaus sein, dass in einer Quäkerversammlung nur ein einzelner Prediger auftritt oder gleich mehrere. So war es auch am Freitag, dem 19. September 1738, in Burlington, einer Stadt im heutigen US-Bundesstaat Vermont. Am Gottesdienst nahm ein kleinwüchsiger Mann teil, der einen weiten Mantel trug. Niemand wusste, dass dieser Mantel nicht nur seinen Körper verhüllte, sondern auch ein speziell präpariertes Buch und ein Schwert verbarg. Das Buch hatte er ausgehöhlt und darin einen Beutel verborgen, der mit rotem Fruchtsaft gefüllt war.
Als die Zeit dafür gekommen war, stand der Mann auf und ging nach vorne. Wer von den Gemeindemitgliedern mit einer freundlichen Predigt über göttliche Gnade und Nächstenliebe gerechnet hatte, wurde böse überrascht. Denn der Kleinwüchsige setzte zu einem wahren Strafgericht an. Der Prediger verkündete, dass Gott der Allmächtige alle Menschen gleich liebe. Egal ob reich oder arm, Frau oder Mann, weiß, schwarz oder von sonstiger Hautfarbe. Nichts davon zählte und so sei es eine fürchterliche Sünde, mit Sklaven zu handeln, selbst welche zu besitzen oder an Geschäften, bei denen Sklaven eine auch noch so geringe Rolle spielten, zu verdienen. Auch wenn der Prediger von körperlich kleiner Gestalt war, seine Worte waren von so großer Macht, dass niemand der Anwesenden wagte zu protestieren. Dies möchte verwundern, denn viele der Quäker von Burlington waren mit dem Transatlantikhandel und dem Sklavenhandel reich geworden. Viele besaßen selbst Sklaven oder waren an Plantagen beteiligt, auf denen Sklaven arbeiten mussten. Der Prediger fuhr fort, den Anwesenden ihre Sündigkeit vorzuhalten. Dann hielt er kurz inne und warf den Mantel von sich.
Erst als Schwert und Buch sichtbar wurden, erfüllte Gemurmel den Raum. Vielleicht waren einzelne Personen sogar aufgestanden, doch all das nützte nichts. Der Kleinwüchsige rief mit lauter Stimme: „So soll Gott das Blut derer vergießen, die ihre Mitgeschöpfe versklaven.“ Mit diesen Worten hob er das Buch hoch über seinen Kopf und stieß mit der anderen Hand das Schwert zwischen die Seiten. Der Fruchtsaft, den alle Anwesenden für Blut halten mussten, spritzte über den Mann und verteilte sich im Raum. Gleichzeitig verkündete der Prediger, der zum Propheten des Unheils geworden war, eine dunkle Zukunft für all diejenigen, die sich an den Sklaven bereichert hatten.
Einige Sekunden später versank die Versammlung der Quäker im Chaos. Der Prophet, der dies völlig still und ohne die geringste Gegenwehr über sich ergehen ließ, wurde von der aufgebrachten Gemeinde ergriffen und vor das Gotteshaus geschleift.
Wer war der Prediger?
Der Mann, der nach seinem spektakulären Auftritt in Burlington aus der Quäkerversammlung geworfen wurde, hieß Benjamin Lay. Eine – nicht nur für seine Zeit – höchst bemerkenswerte Persönlichkeit, die leider der Allgemeinheit heute nahezu unbekannt ist.
Geboren am 26. Januar 1682 in der englischen Grafschaft Essex, war seine Biografie eine der typischen Auswanderergeschichten jener Zeit. Aufgrund seiner Behinderung (legt man zeitgenössische Personenbeschreibungen zu Grunde, so ist davon auszugehen, dass Lay an einer Kombination aus Kleinwuchs und der Scheuermann-Krankheit litt), standen ihm nur wenige Berufswege offen. Er ging darum zur See und arbeitete auf verschiedenen Handelsschiffen, bis er 1718 in die damalige britische Kolonie Barbados kam. Deren Wirtschaft beruhte nahezu vollständig auf der Ausbeutung von Sklaven als Plantagenarbeitern. Als Handelsagent erlebte er dort hautnah, welch grausamer und menschenverachtender Behandlung die Sklaven ausgesetzt waren. Seine Überzeugung als radikaler Sklavereigegner fand hier ihren Ursprung.
Lay, der sich in späteren Jahren als Landwirt in der Kolonie Pennsylvania niederließ, beschränkte seine Überlegungen jedoch nicht nur auf menschliche Sklaven. In seiner Überzeugung waren alle Geschöpfe gleichwertig, weshalb er nicht nur die Sklaverei ablehnte und persönlich keinerlei Produkte verwendete, die damit in Zusammenhang standen, sondern auch als Vegetarier lebte.
Er war davon überzeugt, dass ein stilles, ländliches Leben im Einklang mit der Natur anzustreben sei. Diesen Lebensstil hielt er am ehesten dafür geeignet, die seiner Überzeugung nach in allen Lebewesen vorhandene heilige Präsenz Gottes zu würdigen. Demzufolge sei jedes Leben heilig und schützenswert. Neben Sklaverei seien also auch der Konsum von Fleisch, die Todesstrafe und alle anderen Handlungen verdammungswürdig, die das Leben der Mitgeschöpfe entwerten.
1735 verstarb Lays Frau. Von da an zog er durch die Lande und predigte in teils spektakulärer Form seine Überzeugungen in den Gemeinden der Quäker. Die letzten Jahre seines Lebens verbrachte er in einer zur Wohnung umgebauten Höhle, die neben den nötigen Utensilien, um weitgehend unabhängig zu überleben, auch seine umfangreiche Bibliothek mit Büchern über Theologie, Philosophie, Biografien, Geschichte und Lyrik enthielt. Benjamin Lay verstarb am 08. Februar 1759.
Nachwirkung
Benjamin Lay war in vielerlei Hinsicht eine bemerkenswerte Persönlichkeit. Nicht nur, weil es zu seiner Zeit – und leider ja auch noch lange Zeit danach – sehr ungewöhnlich war, dass Menschen mit Behinderung öffentlich in Erscheinung traten. Zumindest über niveaulose und oft menschenverachtende Zurschaustellung in sogenannten „Freakshows“ hinaus. Lay kann im Rückblick als einer der Wegbereiter des Abolitionismus in den USA gelten. Er war einer der ersten weiter veröffentlichten und gelesenen Autoren zu diesem Thema. Insbesondere sein bereits 1737 veröffentlichtes und später im Verlag von Benjamin Franklin erschienenes Buch All Slave-Keepers That Keep the Innocent in Bondage: Apostates kann als eine Art Samen der Anti-Sklaverei-Bewegung in Nordamerika gelten. Darüber hinaus war er auch einer der ersten, öffentlich von einem größeren Publikum wahrgenommenen Aktivisten für Vegetarismus und Tierrechte.
Nach Lays Lehren war nicht nur das Töten von Tieren zur Gewinnung von Nahrungsmitteln eine Sünde gegen die Heiligkeit des Lebens, sondern auch die Ausbeutung von Tieren zu wirtschaftlichen Zwecken. Darum lehnte er Kleidung aus Wolle ab und trug stattdessen aus Flachsfaser hergestellte Kleidung.
Auch wenn die endgültige Auflösung der Sklaverei in den USA – einem Staat, der zu Lebzeiten Lays noch nicht einmal existierte – erst über ein Jahrhundert nach Lays Tod erfolgte, so kann ihm doch ein nicht geringer Anteil an diesem Erfolg zugeschrieben werden. Denn viele der späteren Abolitionisten wurden durch ihn inspiriert. International ist das Problem der Sklaverei leider bis heute nicht gelöst. Gleiches gilt auch für die vor dem Hintergrund der Klimakrise immer wichtiger werdende Diskussion um neue Arten der Nahrungssicherung und des Naturschutzes. Denn dies bedingt auch, dass wir, genau wie es Benjamin Lay damals tat, immer wieder neu über unseren Umgang mit der Umwelt nachdenken sollten
Weblinks / Quellen / Urheberrecht:
https://www.smithsonianmag.com/history/quaker-comet-greatest-abolitionist-never-heard-180964401/
https://ota.bodleian.ox.ac.uk/repository/xmlui/bitstream/handle/20.500.12024/N03401/N03401.html
https://en.wikipedia.org/wiki/Benjamin_Lay
https://de.wikipedia.org/wiki/Scheuermann-Krankheit
Text: © Markus Zinnecker, 2024
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