Zwei Bänder aus Eisen, scheinbar endlose Parallelen, die sich nur scheinbar irgendwo in der Ferne treffen. In Wahrheit sind sie für alle Ewigkeit getrennt. In einem genau bemessenen Maß, kunstvoll berechnet und verlegt durch das Land. Eiserne Klammern halten sie an Ort und Stelle, Schwellen und Schotter sorgen für das rechte Niveau, das genau richtig bemessene, knappe Maß an Beweglichkeit das sie brauchen um nicht zu zerbrechen, wenn hunderttonnenschwere Lasten über sie hinweg donnern. Ihrer Natur nach sind sie Fesseln, dazu bestimmt ein Abweichen vom vorbestimmten Platz, von der vorbestimmten Bahn zu verhindern. Eine Narbe, hineingeschnitten mit dem Messer der Baukunst in das Gesicht der Natur und doch sind sie Teil der Welt, seit einer Zeit an die sich niemand mehr zu erinnern vermag. Wie ein Speer, durch das Herz der Berge getrieben, ein Pfeil der über die endlose Ebene fliegt. Ewig gleich, still, schweigend, bis zum Moment der rasenden Gewalt, wenn die entfesselten Mächte der Wissenschaft ein Gebirge aus Stahl über den eisernen Weg treiben. Zwei Bänder aus Eisen, eine Spurweite getrennt.
Zwischen jenen Bändern war, seit Anbeginn des Eisenbahnzeitalters, der feste Platz eines seltsam anmutenden Menschen. Eines Menschen, der von den Schienen gefesselt war, dessen Arbeitstag darin bestand dem ewig gleichen Weg zu folgen. Sein Schritt glich sich der Norm der Eisenbahn an, wenn er von Schwelle zu Schwelle trat. Sein Blick wanderte beständig zwischen drei Punkten: Den Schienen, den Schwellen und dem, was die Bahnlinie umgab. Schilder, Signale, Telegrafenmasten, gefährlich nah stehende Bäume. Er war die personifizierte Norm, denn die geringste Abweichung von dem, was sein soll, weckte seine Aufmerksamkeit. Veranlasste ein festes Ritual des Bestimmens, Festhaltens und Meldens. Dies war seine Aufgabe. Von Zeit zu Zeit tat er was der Eisenbahn, die er für den fremden Beobachter verkörperte, eigentlich unmöglich ist: Er trat zur Seite, verließ die Schienen und hielt inne. Eine Armeslänge entfernt vom rasenden Inferno der Moderne. Wenn wieder Stille über der Bahn lag, dann setzte er seine Wanderung fort. Strebte weiter jenem fernen Punkt am Horizont zu, an dem sich die ewig getrennten - in der Illusion – bis heute zu vereinigen scheinen.
Einer, der ein halbes Leben lag, dem Rhythmus der Bahn folgte, war Onkel Gustav. Freunde nannten ihn den „Schwellentritt-Gustav“, denn selbst im gesegneten Alter von über neunzig Jahren ging er noch mit genau bemessener Schrittlänge. Die Nachwirkung von vielen Jahrzehnten Dienst als Streckengänger. Gustav gehörte noch zu jenen Eisenbahnern alter Art, die nicht nur von, sondern auch mit der Eisenbahn lebten. Eines Menschen, dessen gesamter Lebenswandel, dessen Denken und Handeln, vom Regime der Fahrpläne bestimmt war.
Zu jener Zeit standen in ebenmäßigen Abständen entlang der Bahnlinie kleine Häuser. Die Bahnwärterhäuser, die Dienstwohnungen jener Leute, deren Beruf es war die Strecke zu kontrollieren. Jeden Tag, bei Wind und Wetter, egal ob Sonnenglut oder Winterkälte: Gustav verließ am frühen Morgen das Haus und ging die Bahnstrecke entlang. Solange bis er das Haus seines nächsten Kollegen erreicht hatte. Dort klopfte er an die Tür, stellte sicher, dass die Frau des Kollegen seine Ankunft im Dienstbuch vermerkt hatte, und ging zurück nach Hause, wo er am Abend ankam. Dann setzte er sich in den alten Ledersessel, der neben dem Ofen stand und griff zu Tabaktopf und Pfeife. Während er genussvoll den Rauch zur Decke aufsteigen ließ, donnerte draußen der Nachtexpress vorbei. Gustavs Blick wanderte unwillkürlich zur Standuhr: 8 Uhr 24, exakt pünktlich, auf die Minute, der Zug würde rechtzeitig sein Ziel erreichen. Gustav lächelte dann, denn er war glücklich.
Ein langweiliges, monotones Leben möchte man meinen. Doch weit gefehlt. Gustav liebte seine Eisenbahn, kannte seine Strecke bis ins kleinste Detail. Ein einsamer Abschnitt, fern von großen Städten und ohne Unterbrechungen. Kein Bahnübergang, kein Stellwerk, nichts. „I‘ kenn mein Ried, des kannste mir glauben!“ pflegte er zu sagen.
Sein täglicher Gang war eine einsame Wanderung durch die Ebene. Nur von den vorgeschriebenen Halten an den Streckenfernsprechern unterbrochen. Jede der kleinen Wellblechhütten entlang der Bahn enthielt ein Telefon, darüber nahm Gustav Verbindung mit seinem Vorgesetzten auf. Er wusste dann genau, was los war. Ob der nächste Zug pünktlich sein oder Verspätung haben würde.
Überhaupt, die Züge, Gustav liebte diese Momente. Wenn die Schienen anfingen zu singen und damit bestätigten, was ihm seine stets genauestens gestellte Taschenuhr schon angekündigt hatte. Nämlich das bald der Zug kam. Gustav trat dann zur Seite und sah in jene Richtung, aus der er kommen würde. Viele Züge hat Gustav gesehen. Solche in friedlichen Zeiten, voll froh gestimmter Menschen auf dem Weg in die Ferien. Endlose Wagenreihen voll mit all jenen Dingen, die das Leben leichter und schöner machen. Das Geräusch eines solchen Zuges machte ihn glücklich. Allerdings, noch im hohen Alter, legte sich ein Ausdruck der Trauer auf sein Gesicht, wenn er an andere Züge dachte. An solche, deren schwer schnaufende Dampflokomotiven Wagen voller Soldaten und Kriegsmaterial zogen. An Züge, deren ferner Gruß aus der Dampfpfeife nicht fröhlich klang sondern wie der Wehgesang der Verlorenen. Oder solche, die nur aus zugenagelten Viehwaggons bestanden. Bewacht von finsteren Gestalten in bedrohlichen, schwarzen Uniformen. Züge die nicht jene Freiheit brachten, die Gustav stets in der Eisenbahn sah.
Jahre später sah er das letzte der Dampfrösser am Horizont verschwinden. Eine ferne Rauchwolke, die wie die Vergangenheit langsam verblaste. Eine neue Aufgabe tauchte in seiner kleinen Welt auf. Nicht nur das, was unten und links und rechts neben der Bahn war, musste er ansehen, sondern auch das, was an filigranen Masten hoch darüber schwebte. Jenen Draht, der nun das Land durchzog und ein neues Zeitalter ankündigte. Gustav begann sich alt zu fühlen, als man den Draht über seiner Eisenbahn spannte. Die Züge vor denen er jetzt zur Seite trat waren schneller als jene seiner Jugend. Leiser und eleganter, aber sie erschienen ihm auch auf eine seltsame Weise seelenlos zu sein.
Als der Schwellentritt-Gustav eines Tages, nach seinem letzten Kontrollgang, nach Hause kam, endete eine Ära. Die neue Generation von Bahnwärtern wohnte nicht mehr in den schmucken Häuschen direkt an der Strecke. Ihre Arbeit war die gleiche wie seine, und doch völlig anders. Kinder einer neuen Zeit, denen er aus seinem Häuschen schweigend hinterher sah. Denn - Gustav lies auch aus diesem Grund nie etwas auf die Eisenbahn kommen - er durfte den Rest seiner Tage in seinem Häuschen ausleben. Irgendwann begann dort seine letzte Reise, direkt neben seiner großen Liebe, der Eisenbahn.
In liebevoller Erinnerung an meinen Großonkel, den Schwellentritt-Gustav (1899 – 1996).
Text: Markus Zinnecker, 2024
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