Dienstag, 14. Januar 2025

Welche Wahrheit darfs denn sein?

Wahrheit ist eines der Themen, mit denen sich die Menschheit am meisten befasst hat und noch immer befasst. Von den zahllosen Religionsstiftern, Philosophen, Moralpredigern und Sinnsuchern der Geschichte bis hin zu Journalisten, Verschwörungstheoretikern und Politikern unserer Tage: Wahrheit ist ein großes Thema. Ja, in dieser Liste der Suchenden – die alles nur nicht abschließend ist – sind auch Personengruppen aufgeführt, die man im Allgemeinen nicht zwingend mit Wahrheit in Verbindung bringt. Dennoch gehören sie hierher. Denn es soll um die Wahrheit selbst, um die Natur der Sache also, gehen. Nicht um deren Inhalte. Das ist tatsächlich kein Widerspruch in sich, auch wenn es im ersten Moment vielleicht so wirken mag.

Denn Wahrheit ist ja nicht gleich Wahrheit. Auch wenn immer wieder behauptet wird, es gäbe nur die eine und absolute Wahrheit, so ist das eben nicht immer so. Es sei hier einfach mal behauptet, dass es drei verschiedene Wahrheiten gibt. Diesen wollen wir ein wenig auf die Spur kommen.

 

Absolute Wahrheiten

Am uninteressantesten sind die absoluten Wahrheiten, die an denen es nichts zu rütteln gibt. Eine solche Wahrheit ist zum Beispiel die folgende Aussage: „Der Tiger ist ein Fleischfresser.“ Es gibt an dieser Aussage nichts zu bezweifeln, das weiß jeder und, was ja noch wichtiger ist, es ist auch absolut beweisbar. Beobachtungen von Tigern in der freien Natur wie in Gefangenschaft, physiologische Analysen von Tigern und alle möglichen anderen wissenschaftliche Verfahren werden genau zu diesem Ergebnis führen.

Absolute Wahrheiten haben einen großen Vorteil: Sie werden nur sehr selten angezweifelt. Darum spielen sie im großen Diskurs rund um die Wahrheitssuche meist keine große Rolle. Hier seien sie darum auch schnell abgehandelt.

 

Relative Wahrheiten

Spannender als absolute Wahrheiten sind die relativen Wahrheiten. Denn bei ihnen kommt es darauf an. Eine solche relative Wahrheit wäre zum Beispiel: „Rosinen sind eine schmackhafte Speise.“ Nun könnte man sich wunderbar eine angeregte Diskussion zwischen Menschen vorstellen, die gerne Rosinen essen und solchen, die den verschrumpelten Dingern absolut nichts abgewinnen können. Es gibt aber auch noch eine dritte Gruppe in dieser Diskussion: Diejenigen, die Rosinen unter bestimmten Umständen mögen, unter anderem aber absolut abscheulich finden.

So ließen sich etwa drei, für die jeweilige Person absolut richtige und wahre, Aussagen formulieren:

„Rosinen schmecken gut.“

„Rosinen sind ekelhaft.“

„Rosinen im Kuchen schmecken gut, aber im Müsli mag ich sie nicht.“

Lassen wir diese drei Aussagen einmal so stehen, welcher man persönlich zustimmt, ist erstmal egal. Wer von den drei sagt die Wahrheit? Nun, eigentlich alle und gleichzeitig auch niemand. Das mag wie ein Widerspruch klingen, ist jedoch die logische Schlussfolgerung aus der Betrachtung. Denn für jeden der drei Diskussionsteilnehmer ist die jeweilige Aussage absolut wahr, die beiden anderen sind jedoch gleichzeitig absolut unwahr. Was zutrifft, kommt auf die jeweilige Person an.

Relative Wahrheiten sind eine weit verbreitete Form von Wahrheit. Sie begegnen uns täglich in mannigfaltiger Gestalt. Etwa bei der Frage, welche Partei denn nun das beste Programm für die nächste Wahl hat oder welche Sängerin die schönste Stimme hat oder welche Sportart die beste sei. Es sind Fragen, für die es keine allgemeingültigen Antworten geben kann.

Das heißt aber natürlich nicht, dass man über solche Wahrheiten nicht diskutieren kann. Man kann es und es wird ja auch viel getan, allerdings oft unter der falschen Prämisse, jemand zu seinem eigenen Standpunkt bekehren zu wollen. Da es keine allgemeine Antwort geben kann, bleibt hier nichts anderes übrig, als den bestmöglichen Kompromiss zu finden.

 

Flexible Wahrheiten

Die vermutlich spannendste Kategorie von Wahrheiten sind die flexiblen (oder veränderlichen) Wahrheiten. Denn manche Dinge können ihren Wahrheitsgehalt tatsächlich ändern.

Wenn Sie die Gelegenheit haben, dann schauen Sie mal in ein Schulbuch für den Physikunterricht aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Dort wird man den folgenden Satz finden: „Das Atom ist das kleinste Teil, aus dem die Materie aufgebaut ist und unteilbar.“

Jeder Mensch, der heute lebt und auch nur einen winzigen Hauch von physikalischer Bildung genossen hat, wird natürlich sofort sagen: „Was für ein Unsinn.“ Ja, heute ist es das, aber damals war es wahr, einfach weil man es nicht besser wusste. Lebensbereiche, die der Veränderung, dem Fortschreiten, der Weiterentwicklung in irgendeiner Form unterliegen, sind das Feld der flexiblen Wahrheiten. Wissenschaft und Technik sind voll davon und leben letztlich davon, sich selbst des Irrtums zu überführen. Auch wenn es leider oft missverstanden wird, gerade die Wissenschaft braucht den Irrtum, den Irrweg und den Fehler, um in kleinen Schritten zu besserem Verständnis zu gelangen und dann, irgendwann vielleicht einmal, zu einem bestimmten Thema eine absolute Wahrheit zu finden.

Dinge wie die allgemeine Gesellschaftsform und die Sprache unterliegen dem Wandel und sind damit oft von flexiblen Wahrheiten durchsetzt. Das Schulbuch von anno dunnemals, das dem Atom die Unteilbarkeit unterstellt, mag heute falsch sein, doch es ist auch zugleich richtig als Dokument einer Zeit, in der man es eben nicht besser wusste.

Historiker nennen das die „kritische Quellenbeurteilung“. Damit ist gemeint, dass man mit den heute unwahren Wahrheiten der Vergangenheit vorsichtig sein muss. Doch bei richtiger Anwendung kann man durch sie auch verstehen, wie die Menschen der jeweiligen Zeit dachten und die Welt sahen.

 

Es ist eben nicht so einfach mit der Wahrheit. Darum bleibt abschließend wohl nur festzuhalten, dass man sich an das halten sollte, was man selbst für wahr erkannt hat. Gleichzeitig aber auch immer offen – oder zumindest verständnisvoll - sein soll für die Wahrheiten anderer. Außerdem auf der Hut, dass man nicht einer überholten, veränderlichen Wahrheit hinterherläuft. Diese könnte ein Irrweg sein.

 

Text: Markus Zinnecker, 2025

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